So reißen Sie die Mauern der Lebenslüge Ihres Romanhelden ein: mit Drama

Für Autoren haben Krisen auch ihr Gutes: Sie bringen den Kern einer Figur zum Vorschein. Sie lehren uns alle auch sehr viel über uns Menschen und wie wir ticken. Hilfreiches Material für Sie.
Na ja, sie könnten uns etwas lehren. Doch die, wir sind im Dezember 2021, fortlaufenden Appelle von Politikern, Wissenschaftlern, Nachbarn an die Vernunft dringen bei einer bestimmten Gruppe von Menschen nicht durch. Dass weiter appelliert wird, beweist nur, wie wenig sich die Appellierenden mit Menschen auskennen. Es ist schlicht nicht möglich, einem unlogischen, unvernünftigen Verstand mit Logik und Vernunft beizukommen. Wer menschliches Handeln als allein oder überwiegend von Vernunft gesteuert ansieht, weiß nichts über Menschen. Sie als Autor:in wissen mehr.

Schreibanregung: Sind Ihr Protagonist und wichtige Nebenfiguren eher von Vernunft und Logik getrieben? Oder von Gefühlen? Welche Gefühle sind das? Einer der stärksten Antriebe des Menschen ist Angst.

Angst kann man entgegentreten, man kann einem Menschen die Angst nehmen.
Schreibanregung: Gibt es eine Figur, die Ihrer Protagonistin ihre Angst nehmen kann? Wie geht er oder sie dabei konkret vor? Welche Hürde ist dabei die größte, welche Angst also am hartnäckigsten? Warum?

Tatsächlich ist nicht nur das aktuelle C-Problem noch schwerer lösbar als der Umgang mit Angst und Unvernunft. Wir Menschen neigen ja dazu, uns unsere eigene Wirklichkeit zu zimmern und uns darin einzurichten. Diese wird umso stabiler, die Wände umso besser gegen den Schall (von Argumenten, Appellen, Drohungen, Bitten usw.) isoliert, je mehr Menschen sich darin einrichten und sich gegenseitig versichern, dass der Wind, der an der Tür rüttelt, der Atem des Bösen ist. Schlimmer noch: Je mehr der Wind rüttelt (tatsächlich die Appelle und Drohungen und Bitten usw.), umso böser erscheint den so gemütlich Eingerichteten dieser Wind. Argumente erzeugen Gegenargumente, Appelle erzeugen Widerstand, Drohungen noch mehr davon. Die Eingerichteten packen eine weitere Isolierschicht auf die Wände, eine Lage Bretter auf die schon verrammelten Fenster.
Wir Schreibratgeber nennen dieses Häuschen die Lebenslüge.
Ich nenne dieses Häuschen auch Paralleluniversum.
Nicht nur Physiker wissen um die Schwierigkeit, von unserem Universum in das in der Nachbarschaft einzudringen. Aber zum Glück sind wir hier ja alles Autoren. Wir kennen einen Weg hinein.
Drama.

Schreibanregung: In welcher Realität (Lebenslüge) hat sich Ihr Protagonist so häuslich (treffender wäre wohl: so trutzburgig) eingerichtet? Finden Sie mindestens drei spezifische Punkte, die die Grundpfeiler seiner Wirklichkeit und damit seiner Wahrheit sind.
Was sieht er darum nicht, was anderen offensichtlich ist? Welche Konflikte ergeben sich daraus? Wen aus seiner Familie, seinem Kreis von Kollegen und Freunden stößt er damit so vor den Kopf, dass es zum Bruch kommt? Inwiefern belastet das den Protagonisten? Welche Entscheidungen und, von außen betrachtet, Fehlentscheidungen trifft er deshalb? Welche fatalen Handlungen ergeben sich aus diesen Entscheidungen?
Sorgen Sie dafür, dass diese eigene Realität ein unüberwindliches Hindernis auf dem Weg zu seinem zentralen Romanziel bietet.
Wer hilft ihm, die Wahrheit zu erkennen? Was gibt er Wesentliches von sich auf, wenn er seine so massiv verteidigte Wirklichkeit aufgibt? Sprich: Was ist das Gute und Richtige an dieser falschen Realität? Könnte er auch einen Menschen verlieren, der sich mit ihm in dieser parallelen Realität eingerichtet hat? Was verliert er durch die Aufgabe der Realität für immer?

Drama ist eben nicht nur … dramatisch und daher (für die Beteiligten, nicht für die Leser) etwas Negatives, Unheilvolles und Gefährliches. Im Drama steckt der Wille nach und die Hoffnung auf Veränderung. Um ein Durchdringen der Grenzen zwischen diesem Universum und seinem Paralleluniversum.
Anders gesagt: Die Veränderung einer Figur gelingt nur, indem Sie ins Paralleluniversum ihrer Einstellungen, ihrer Gefühle, ihrer Realität eindringen und die Barrieren (die verrammelten Fenster, die schalldichten Wände) niederreißen.
Wie aber gelingt Ihnen das auf eine für die Leser überzeugende Art und Weise?

Schreibanregung: Machen Sie die Schwachstellen in der Verrammelung der Figur aus. Wo ist sein oder ihr Häuschen noch am ehesten offen, wo sind die Risse in der Fassade, durch die das Draußen hereinkann? Das könnte das Leben eines geliebten Menschen sein. Oder ein Trauma, zu dem die Figur auf keinen Fall zurückkehren will. Vielleicht auch etwas Wunderschönes, das er oder sie nun gefährdet sieht oder in unerreichbare Ferne gerückt.
Finden Sie heraus, womit Sie diese Festung stürmen können: Was muss (Dramatisches, Schreckliches) passieren, damit die Figur überhaupt erkennt, dass sie sich verbarrikadiert hat? Würde sie es sehen, wenn ein geliebter Mensch schwer erkrankt? Würde er es bemerken, wenn ihn sein, überwunden geglaubtes, Trauma in jeder schlaflosen Nacht massiver verfolgt? Wenn das, wovon er ein Leben lang geträumt hat, auf einmal fort ist? Wie etwa eine olympische Medaille im Speerwurf, aber nun wird ihm nach einem Unfall sein Wurfarm amputiert.
Dann lassen Sie das Schlimmste geschehen.
Besser noch: Lassen Sie zunächst etwas Schlimmes geschehen, dass der Figur die Risse zeigt, aber nicht zu ihr durchdringt. Vielleicht glaubt sie sich sicher. Womöglich baut er eine zweite Wand vor die erste. Wiegen sie ihn in Sicherheit. Und dann erst lassen Sie das Schlimmste geschehen. Dann reißt selbst die zweite Wand, als wäre sie aus Papier. Alles stürzt ein. Lassen Sie die Figur von den Trümmern begraben. Lassen Sie sie unter den Trümmern liegen, auf Rettung hoffend. In großer Pein. Vergeblich. Niemand rettet sie.
Auf wessen Rettung hofft die Heldin vergeblich?
Doch die Zeit, reglos und verloren, könnte sie nutzen. Für eine Rückschau. Eine Bestandsaufnahme. Für Ehrlichkeit. Für das Ende ihrer Verblendung.
Für einen Neuanfang.
Doch die Trümmer sind noch da. Der Neuanfang ist nicht leicht, scheint unmöglich. Die Figur gibt auf. Endgültig. Dann schicken Sie ein Licht durch die Ritzen der Steine. Neue Hoffnung. Und sie macht weiter, gräbt sich frei. Dieses Licht kommt nicht von ungefähr. Sie haben es von Beginn an in der Figur angelegt. In ihrem Wesen, ihren Erfahrungen.
Wer hilft ihr, gänzlich unerwartet?
Es ist kein Triumph. Noch nicht. Lediglich ein Anfang. Aber das ist gerade alles, was zählt. Wie fühlt sich die Figur, Ihr Protagonist, Ihre Heldin dabei? Was ist der eine, herausragende Punkt, der am meisten Hoffnung in der Figur weckt? Bauen Sie auf diesen Punkt auf. Entwickeln Sie daraus den weiteren Weg. Der erste Schritt ist getan. Doch noch liegen hohe Hürden vor der Figur.
Diese kommen anschließend (im letzten Akt Ihres Romans). An ihnen wird die Figur zeigen müssen, dass ihre Veränderungen, die Annahme der realen Welt jenseits der Trümmer ihrer eigenen Welt aus Lügen, mehr sind als ein Lippenbekenntnis. Nur durch diese, in Handlung umgesetzte, Veränderungen beweist sie sich selbst und Ihren Lesern: Ja, ich bin ein neuer Mensch. Ich habe mich freigemacht von meiner Lebenslüge. Es war ein harter Weg, es hat mich große Opfer gekostet, aber, alles in allem, war es das wert.
Sie muss ihren neuen Weg verteidigen. Die Lebenslüge lockt, Menschen, die mit ihr die Lüge gelebt haben, wollen Ihre Heldin zurückholen. Sie tun das, indem sie Ihre Heldin an den empfindlichsten Stellen anrühren. Welche sind das? Warum? Wer oder was hilft Ihrer Heldin, zu widerstehen?
Gönnen Sie der Figur eine Rückschau. Lassen Sie die Opfer Revue passieren. Und dann lassen Sie sie ihren Blick zum Horizont richten.
Verbinden Sie das alles mit konkreten Dingen, Handlungen, mit tiefen Emotionen. Verbinden Sie das mit Ereignissen aus dem Roman, die auch die Leser zurück zu den Höhepunkten der Geschichte schicken.
Morgen ist auch noch ein Tag. Und diesen Tag hat sich Ihr Held, Ihre Protagonistin redlich verdient. Das finden dann auch Ihre Leser und klappen das Buch zufrieden und vielleicht mit einer Träne der Rührung im Auge zu. Im besten Fall hat Ihr Roman auch sie ein klein wenig verändert. Schließlich kämpfen auch die Leser mit ihren eigenen Lügen. Und Ihr Roman hat ihnen einen Ausschnitt der Wahrheit gezeigt.
So, wie das nur eine gute Geschichte vermag.

Und dann schreiben Sie die nächste.


Mehr zu Plot & Struktur und wie Sie damit die Veränderungen Ihrer Helden anstoßen, begleiten, verstärken, dramatisieren, finden Sie hier:

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