Welche Romane und TV-Serien ich Ihnen aus meinem Jahr 2022 besonders ans Herz lege – und wie diese Ihr Schreiben verbessern. Und vielleicht auch Ihr Herz.

»The White Lotus« — Charaktere, Beziehungen, Themen

Für die unter Ihnen, die an kleinen, intensiven Dramen schreiben, in denen besondere Charaktere und vielschichtige Dialoge eine Rolle spielen, empfehle ich die erste Staffel der TV-Serie »The White Lotus« (Wow, Sky).

Eine Woche in einem Hotel auf Hawaii. Mit jedem Tag wird der Aufenthalt sowohl für die reichen und teilweise schönen Urlauber als auch für die Mitarbeiter des fiktiven White-Lotus-Hotels mehr und mehr zu einem Desaster.

Sehr schön studieren können Sie hier, wie sich Beziehungen entwickeln und zunächst banale Konflikte eskalieren. In einem davon geht es um Shane, einen reichen Schnösel, der auf seiner Hochzeitsreise eben nicht die gebuchte Suite bekommt. Ein Fehler des Hotelmanagers Armond. Und obwohl die neue Suite in vielem besser ist, beharrt Schnösel Shane auf seiner Buchung, während Armond seinen Fehler nicht zugeben will und dem Gast die gebuchte Suite nicht geben kann, da sie belegt ist. Aus diesem simplen Anfang entsteht ein riesiger Konflikt mit einem ebenso dramatischen wie bizarren Finale.
Wenn Sie schon immer mal wussten, wie man die verschiedensten Figuren und Beziehungen um ein oder zwei Kernthemen herum gruppiert, auch dann werden Sie bei »White Lotus« fündig. So bewegen sich die meisten Beziehungen um die Themen »Abhängigkeit« und »Ausbeutung« und die entsprechende Befreiung davon. Da ist die stinkreiche Tanya, die sich endlich von ihrer Mutter befreien will, deren Asche und Urne sie mitgebracht hat, um sie ins Meer zu schütten. Ihr gegenüber agiert Belinda, die herzensgute Spa-Managerin des Resorts. Nach einer Behandlung im Spa ist Tanya so begeistert, dass sie Belinda stalkt: sie will nur noch von ihr massiert werden und am liebsten dauernd. Die Beziehung kippt, ja, dreht sich um hundertachtzig Grad, nachdem Tanya Belinda den Floh ins Ohr setzt, sie könne sich mit ihren Fähigkeiten selbstständig machen – nun ist es Belinda, die Tanya immer wieder an das vermeintliche Versprechen erinnern muss, sie würde ihr bei der Existenzgründung finanziell unter die Arme greifen.
Hausaufgabe: Sehen Sie sich die erste Staffel an und finden Sie heraus, wie die anderen Beziehungen um die genannten Themen kreisen.
Die Serie ist Satire und unterschwelliges Drama vom Feinsten.

 

»Babylon Berlin« — Plot, Mehrteiler, Konflikt

Für Plotter und solche, die es noch besser machen wollen, bietet die vierte Staffel der deutschen Krimi-Serie »Babylon Berlin« (Sky, ARD) so einiges.
Diese Staffel spielt Anfang der 1930er-Jahre in Berlin und basiert auf Volker Kutschers Roman »Goldstein« (weicht jedoch in vielem von der Vorlage ab).
Die komplette Staffel ist wie eine einzige Story geplottet, sodass Sie hier auch einige Inspiration für Ihre eigenen Mehrteiler oder Serien finden, aber natürlich ebenso für einzelne Romane.
Sehr schön studieren können Sie, wie sich in der ersten der zwölf Episoden diverse Klammern öffnen und sich in der Finalepisode wieder schließen – und zeigen, was sich mit den Figuren und der Handlung verändert hat. Auf der Reise im Zeppelin von New York nach Berlin treffen sich an der Bordbar ein jüdischer Gangster und ein russischer Spion. In ihrem Gespräch legen sie den Grundstein für zwei wichtige Handlungsstränge und sorgen somit schon für Suspense. Aber eben auch für Überraschungen. Denn am Ende, auf dem Rückflug von Berlin nach New York, treffen sie sich wieder, und zumindest für einen von ihnen hat sich vieles geändert.
Die Serie bietet sich auch an zum Studieren von Konflikten und wie Sie sie eskalieren. Ein Beispiel: Die verarmte, auf der Straße lebende Toni, wird bei einem Einbruch Zeugin eines Mordes: Ein Polizist tötet ihren Komplizen. Toni flieht und wird fortan von dieser Gruppe korrupter Polizisten gejagt. Bei dem Einbruch begegnet sie Moritz, einem Mitglied der Hitlerjugend. Moritz verliebt sich in sie, bevor er sie aus den Augen verliert.
Sie treffen sich wieder. Die Umstände sind konfliktreich: Die Hitlerjugend hat es nämlich ebenfalls auf Toni abgesehen. Als eine Gruppe von ihnen Toni aufspürt, ist auch Moritz dabei. Und mit ihm: ein schwerer innerer Konflikt. Seine Loyalität zu seinen Kameraden gebietet ihm, Toni einzufangen. Doch seine Gefühle für Toni treiben ihn dazu, ihr zur Flucht zu verhelfen.
Das scheint ihm zu gelingen. Er schneidet sich sogar die Wange auf und gibt Toni das Messer, um es so aussehen zu lassen, als hätte sie sich gegen ihn gewehrt und wäre weggerannt. Sie rennt weg.
Die meisten Autoren würden sich mit diesem Konflikt zufriedengeben. Nicht so die Macher von »Babylon Berlin«.
Ja, Toni rennt los – direkt in die Arme eines der korrupten Polizisten. Und dieser will sie auf der Stelle erschießen. Was Moritz in einen zweiten, noch sehr viel krasseren Konflikt treibt: Soll er Toni ein weiteres Mal retten – auch wenn er dafür einen Menschen töten muss? Auch wenn das, eine weitere Eskalation, ein Polizist ist?
Was Moritz tut und welche Konsequenzen das nach sich zieht, sollten Sie sich selbst ansehen.
Am Ende, auch hier schließt sich eine Klammer, begegnen sich Toni und Moritz wieder …

»Atem« von Tim Winton — Setting durch Charaktere, Einfühlung, Identifikation

Wie Sie ein Setting lebendig machen und Ihren Lesern eine für sie unbekannte Welt nahebringen, zeigen zwei grandiose Romane aus dem Surfer-Milieu. Ich habe keine Ahnung vom Surfen und keine wassersportlichen Ambitionen. Aber in beiden Romanen habe ich mit großem Interesse eine Menge übers Surfen und die Surfer gelernt und mich genussvoll in dieser Subkultur verloren.
Der eine Romane ist »Atem« von Tim Winton.

Sonne, Meer und Weite – für einen Surfer ist das nicht genug. Er braucht die große, die immer größere Welle. Bruce Pike ist in seinem Leben viele Wellen geritten, er weiß um die Faszination und die Tücken dieses Sports. Dabei fing alles so harmlos an, in seinem kleinen Kaff an der Westküste Australiens: Als Kind tauchte er mit seinem Freund Loonie um die Wette, es ging darum, so lange wie möglich den Atem anzuhalten. Bald entdeckten sie gemeinsam das Surfen – und forderten immer waghalsiger den Tod heraus …

Ein tiefgründiger Entwicklungsroman und eine Geschichte über Freundschaft und Liebe.
Tim Winton (einer der besten Autoren, die Sie noch nicht kennen) schafft es, den Lesern seine Figuren so nahe zu bringen, dass sie sich mit ihnen identifizieren oder sich doch tief in sie einfühlen – und sich damit für das interessieren, wofür sich auch die Figuren interessieren.
In »Atem« lernen Sie, wie Sie Setting und Charaktere so eng miteinander verweben, dass das Interesse für das eine automatisch auch Interesse für das andere weckt.

»Pacific Private« von Don Winslow — Setting durch Sprache und Charakterisierung

Der andere Roman, »Pacific Private«, geht mehr in Richtung Thriller und wurde von einem der besten Autoren geschrieben, die Sie vielleicht kennen, Don Winslow. (Ebenso lesenswert ist die Fortsetzung »Pacific Paradise«.)

Boone Daniels lebt, um zu surfen. Nebenbei übernimmt er als Privatdetektiv ein paar Jobs, doch nie so viel, um nicht rechtzeitig bei Tagesanbruch am Strand zu sein, wo er mit seinen Kumpels die großen Wellen erwartet. Doch gerade, als Riesenbrecher auf Pacific Beach, Kalifornien zurollen, wie sie nur alle paar Jahre vorkommen, wird er in einen Fall verwickelt, der auch ein dunkles Kapitel seiner Vergangenheit betrifft.

Hier schafft es der Autor über seine überragende literarische und teilweise urkomische Schreibe (zumindest im Original), die Figuren und das Setting lebendig werden zu lassen. So schweift er immer wieder ausführlich ab, doch tut er das auf eine so unterhaltsame und kluge Art und Weise, dass die Abschweifungen von den Lesern nicht als solche empfunden werden, sondern als Bereicherung, ja, als Notwendigkeit. Das Setting in einem südkalifornischen Küstenort und die Surfer-Subkultur schleichen sich selbst in die Leser, die an beidem zuvor kein besonderes Interesse hegten.
Ein Lehr- und Meisterstück für sich ist die Einführung der »Dawn Patrol«, der Gruppe von Surfern, die sich jeden Morgen im Wasser treffen auf der Jagd nach Wellen. Was den meisten Autoren misslingen würde, Don Winslow brilliert darin: Er stellt die fünf Freunde hintereinander vor und das ausführlich. Doch er tut das auf eine so eigenwillige Weise, verleiht jeder der Figuren etwas Spezielles, Unverwechselbares, dass wir als Leser uns anschließend tatsächlich sämtliche Namen gemerkt haben und genau wissen, was für ein Mensch jeweils dahintersteckt.
Sprache und Charaktere und vor allem deren Beziehungen sind in beiden Romanen der Schlüssel, die Leser tief hereinzuholen in eine für sie fremde Welt.

Das hier war natürlich nur die Spitze des Eisbergs meiner besten Lese- und Seh-Erlebnisse 2022. Es gibt so viele wunderbare Geschichten da draußen. Sie sind gar nicht so schwer zu finden. Wann gesellt sich Ihre dazu?

PS: Was waren Ihre besten und liebsten Storys 2022, in welchem Medium auch immer? Schreiben Sie mir an blog at schriftzeit.de. Ich freue mich und bin gespannt.

PPS: Ihnen hat der Artikel gefallen? Meine Schreibratgeber finden Sie allesamt hier …