Braucht Ihr Roman Phasen der Entspannung?

Sind Sie entspannt? Schön für Sie – sofern Sie nicht gerade einen Roman lesen. Womit wir bei einem der am weitesten verbreiteten Missverständnisse unter Autoren wären: Ein Roman könne nicht von Anfang bis Ende spannend sein, er brauche zwischendurch immer mal wieder Phasen ohne Spannung. Spannung und Entspannung wechseln einander ab. Nennt man Achterbahnfahrt oder so. Klar.

Dieses Missverständnis ist nicht nur weit verbreitet, sondern leider auch fatal. Für Ihren Roman. Was sofort klar wird, wenn wir uns ansehen, was Spannung im Kern ist: Ein Gefühl im Leser, das ihn zum Umblättern drängt.
In diesem so harmlos wirkenden Satz steckt gleich doppelter Sprengstoff. Bei näherer Betrachtung erschüttert er zwei Dinge, die viele Autoren für unumstößliche Wahrheiten halten.
1. Es gibt spannende Romane. Keine Frage.
2. Nicht jede Seite eines Romans muss im Leser das Gefühl von Spannung auslösen. Im Gegenteil: Der Leser braucht und genießt zwischendurch das Fehlen von Spannung, im Volksmund »Enstpannung« oder »Chillaxation« genannt.

ad 1: Fakt ist, sorry: Auch Sie haben noch nie einen spannenden Roman geschrieben. Oder eine spannende Geschichte.
(Dramatische Pause.)
Was nicht an Ihnen liegt oder gar an mangelndem Können oder Talent. Die Wahrheit ist: Es gibt keine spannenden Geschichten, keine spannenden Romane.
Wie bitte, Waldscheidt? Was ist das für ein Unsinn?
Kein Unsinn. Siehe oben: Spannung ist ein Gefühl im Leser, das ihn zum Umblättern drängt.
Sprich: Die Spannung ist eine Sache des Lesers, nicht eine des Romans. Womit Ihnen sofort klar werden dürfte, wieso Sie Filme langweilig fanden, die andere vor Hochspannung vergehen ließ. Oder warum Sie einen Roman in einem Rutsch durchlesen mussten, den andere nach drei Seiten gähnen zugeklappt haben.
Was Sie als Autor in der Hand haben: Sie können und sollten Methoden und Wege finden, wie Sie die Leser zum Umblättern animieren. Dazu zwingen können Sie die Leser nicht. (Ah, wäre aber schön, oder?) Ihre Aufgabe als Autor ist es also, das Risiko zu verringern, dass die Leser Ihr Buch weglegen.

ad 2: Fakt ist, siehe oben, was Spannung im Kern ist: Ein Gefühl, das den Leser zum Umblättern animiert. Sprich: Eine Seite ganz ohne Spannung kann dieses Gefühl, dieses Bedürfnis nicht wecken. Warum also sollte der Leser umblättern? Um Ihnen, Autorin oder Autor, einen Gefallen zu tun?
Grund für dieses Missverständnis ist, dass auch viele Autoren Spannung mit Action, Aufregung, Adrenalin verwechseln. Was nicht an der Alliteration liegt. Tatsächlich ist der Teil der (Animation zur) Spannung, den Sie beeinflussen können, vor allem das Produkt aus ungelösten Konflikten, hohen Einsätzen und dem emotionalen oder intellektuellen Engagement der Leser. (Welche anderen Faktoren unverzichtbar sind, das wissen Leser von »Spannung & Suspense – Die Spannungsformel für jedes Genre«.)
Die Konflikte und Einsätze haben Sie als Autor in der Hand. Das Engagement der Leser können Sie mehr oder weniger stark beeinflussen, vor allem über Ihre Figuren – kontrollieren können Sie es nicht.
Dass die Leser das Buch oft dann doch nicht weglegen, obwohl es anscheinend gerade einen Spannungs-Durchhänger hat: Es laufen noch andere Spannungsarten beziehungsweise weitere Konflikte sind noch ungelöst.
Genau dort setzen Sie an, um sicherzugehen (so weit Sie das eben in der Hand haben), dass die Leser umblättern: Sie sorgen dafür, dass immer mehrere Spannungsarten am Laufen sind. Wenn also der aufregende Dialog zwischen Bertram und Else vorbei ist, sorgt dennoch die zuvor aufgebaute Suspense, was Else wirklich über Bertrams Industriespionage weiß, für anhaltende Spannung.

Was ist also nun mit der Entspannung?
Die vermeintlich so wichtige Entspannung meint tatsächlich gar keine Beendigung der Spannung – sondern einen Wechsel der Spannungsart. Immer dieselbe Art von Spannung (etwa eine dreihundertseitige Autoverfolgungsjagd mit Schießerei) langweilt und ermüdet auf Dauer. Wenn Sie die vorherrschende Spannungsart jedoch immer mal wieder ändern, beugen Sie Ermüdung und Langeweile vor und halten gleichzeitig die Spannung auf hohem Niveau, sodass die Leser weiter gerne und gespannt, bestens unterhalten und hellwach umblättern.

Die Einzigen, die entspannt bleiben dürfen, sind Sie, liebe Autorinnen und Autoren! Denn mit permanenter Spannung halten Sie Ihre Leser bis zur nächsten Seite – und bis zum Kauf Ihres nächsten Buchs.

 

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