Auf der Suche nach Kriterien für einen gelungen Roman

Man lernt nie aus. Es sei denn, man will es so.

Was mir beim Schreiben so gefällt: Man lernt nie aus. Egal, wie viele Romane man schon geschrieben oder als Berater oder Lektor betreut hat, man findet garantiert noch vieles, was man nicht wusste, nicht konnte, auf das man bisher nicht achtete. Für mich fühlt sich das jedes Mal an wie ein kleiner Sieg: Ja, wieder schlauer/aufmerksamer/besser geworden!
Ein Sieg ist es auch für den Text und für die Leser.

Kriterien für die Qualität für Romane und Filme

Für dieses Gefühl, sich als Autor weiterentwickelt zu haben, braucht man jedoch Kriterien. Was ist »besser« in dem Zusammenhang? Was »Wissen«, ja, was ist das überhaupt, ein guter Text, ein guter Roman oder Film, eine gute Geschichte?
Fragen, die für Autorenratgeber ebenso unerlässlich sind wie für jedes konstruktive Gespräch über die Qualität einer Story. Fragen, die sich Ihnen stellen, wenn Sie eine Agentur suchen und einen Verlag. Und Leser. Fragen, die bei der Zusammenarbeit mit Ihrer Lektorin auftreten, die Ihnen auf Lesungen oder in Interviews begegnen. Fragen, die Sie beantworten sollten bei jedem neuen Roman, den Sie schreiben.

Mein Eindruck ist, dass die Kriterien individueller werden und leider auch stimmungs- und situationsabhängig. Was ich einerseits nachvollziehen kann, ja, gut finde. Wie eintönig wäre Kunst, wenn alle immer und überall derselben Meinung wären! Am Ende gäbe es nur noch einen Roman, einen Film und ein Gemälde.
Andererseits sehe ich die Entwicklung mit Sorge. Wenn es kein Maß mehr gibt für Qualität, gibt es eben auch kein Maß mehr für Verbesserung. Überarbeitung wird damit überflüssig, denn mit welchem Ziel soll ich noch überarbeiten, wenn alles beliebig geworden ist? Wenn alles Geschmackssache ist, welchen Grund, welches Ziel, welche Genugtuung und Freude gibt es dann noch über ein Werk? Schlimmer: Wenn niemand mehr auf Qualität hin arbeitet, essen wir morgen eben nichts Leckeres mehr bei einem leidenschaftlichen Koch, sondern kratzen gelangweilt unsere Einheitsbreipaste aus der Tube.

Wenn Sie schreiben, so haben Sie zumindest grobe Kriterien im Kopf, was für Sie eine interessante Idee, eine spannende Story ist und was Sie für erzählhandwerklich gut, sprachlich überzeugend und literarisch wertvoll halten. Und inwieweit Sie diese Vorstellungen erreichen und Ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden können. Und denen der Leser. Nur weil ich solche Kriterien habe, manche klarer zu formulieren als andere, kann ich mir anmaßen, übers Schreiben zu schreiben und Tipps zu geben, kann Autoren beraten, Romane optimieren.
Sobald jedoch unsere Kriterien keine Berührung mehr mit den Kriterien anderer finden – wird da die Beschäftigung mit Romanen, mit Filmen, mit Geschichten allgemein nicht weitgehend sinnlos?
Wenn Sie nur für sich schreiben, ist das weniger ein Thema. Das Gleiche gilt dann, wenn Ihnen die Rezeption Ihrer Storys tatsächlich und vollkommen gleichgültig ist. Doch sobald Sie auch nur einen Leser gewinnen wollen, brauchen Sie Maßstäbe, an denen Sie sich orientieren. Sobald Sie einen zweiten Roman schreiben, sollten Sie wissen, was beim ersten warum funktioniert hat oder eben nicht und was Sie nun besser machen können.

Das Thema bleibt naturgemäß offen, und auch das ist gut so. Mich interessieren Ihre Kriterien für einen gelungenen Roman. Erzählen Sie sie mir, auch im Hinblick auf einen Artikel, der das Thema weiter vertieft: blog@schriftzeit.de (Aber bitte vermeiden Sie nichtssagende Verallgemeinerungen wie »spannend« oder gar »lesenswert«. Werden Sie so konkret wie möglich. Denn nur dann können wir tatsächlich darüber diskutieren. Dem einen seine »Spannung« ist dem anderen sein Schlafmittel. Danke schön.)

Was habe ich nun in letzter Zeit gelernt?

Was ich aus der TV-Serie „Barry“ gelernt habe

Etwas Wichtiges hat mir die TV-Serie »Barry« nachdrücklich in Erinnerung gerufen und vor Augen geführt. Die schwarzhumorige Serie erzählt von Barry Bergman, einem Auftragsmörder, der einen Job in Los Angeles erledigen sollt und dabei in Berührung mit dem Theater kommt. Er setzt sich in den Kopf, Schauspieler zu werden.
Ironie, liebe Leute, ist das Stichwort hier. Und eines der mächtigsten Instrumente in Ihrem Schreiborchester – und auch, vielleicht gerade, dann, wenn Ihr Text kein humorvoller ist.
Ein Auftragsmörder scheut nichts so sehr wie die Öffentlichkeit, er arbeitet im Verborgenen und will alles vermeiden, um sein Gesicht zu zeigen. Ein Schauspieler … ist das genaue Gegenteil davon. Aufmerksamkeit ist seine Währung und er tut alles dafür, sein Gesicht in der Öffentlichkeit sichtbar und präsent zu machen.
Mit einer solchen, ironischen Ausgangssituation bauen Sie von Anfang an und vor dem ersten Wort, das Sie schreiben, Konflikte und Konfliktkaskaden in Ihre Story ein. Die Ironie macht die Sache nicht nur interessanter und aufregender für Ihre Leser – sie erleichtert Ihnen auch das Finden von Ideen, das Entdecken von Situationen, das Schreiben von Szenen. Mehr noch: Auch dem zentralen Drama der Geschichte nähern Sie sich so nahezu unvermeidlich. Bei »Barry« sind das dramatische Fragen wie »Wie kann ich als Schauspieler erfolgreich sein, und dennoch meinen anderen Job weiter ausüben?«, »Wie kann ich den Kern meiner Persönlichkeit offenbaren, unerlässlich für gutes Schauspiel, ohne meine Persönlichkeit zu offenbaren, unerlässlich für nachhaltiges Auftragsmorden?«

Wie „House of the Dragon“ die Wichtigkeit von „Show, don’t tell“ zeigt — indem die Serie dabei alles falsch macht

Eine weniger schöne Form von Ironie ist es, wenn ausgerechnet eine Fernsehserie die Maxime »Zeige, statt zu erzählen!« (Show, don’t tell!«) auf krasse Weise verletzt. Was schon einem Roman selten guttut, kann einen Film, das Zeige-Medium schlechthin, vernichten. So wie das gerade bei dem »Game of Thrones«-Ableger »House of the Dragon« geschieht.
Der König sei … der König. Zumindest behaupten das alle. Leider erlebt man ihn praktisch nie bei Regierungsgeschäften (nein, sein Beratergremium zähle ich nicht, dieses legt nur weitere Schwachstellen der Serie offen) oder gar bei Ortsterminen. Auch sein Volk sieht man nie. Seine Regentschaft sei unter Druck. Leider zeigen sie das nicht. Stattdessen sieht man den König vor allem, wie er an seiner Modellstadt bastelt (anstatt ihn in der realen Stadt zu zeigen, die er angeblich regiert). Nach dem Tod seiner Frau reißen sich angeblich die Verehrerinnen um ihn. Leider wird auch das nicht gezeigt (etwa in einer prächtigen Ballszene mit klasse Dialogen mit viel Subtext, wie wär’s?). So viele Chancen auf tolle Szenen, vertan. (Die dritte Episode spielt übrigens zum großen Teil in einem nichtssagenden Stück Wald. Haben sie das Geld für anständige Settings und Szenen in Las Vegas verspielt? Versoffen?)
Warum ist das Zeigen in diesen Fällen so ratsam? Weil Sie mit einer Szene die Leser eher überzeugen. Denn, es steckt im Wort, Sie machen damit die Leser zu Zeugen des Geschehens und nicht bloß zu Rezipienten einer Erzählung, die sie glauben können oder eben nicht.
Leider geht es in »House of the Dragon« noch weiter in diese fatal falsche Richtung … Der Krieg gegen die Crabfeeder wird als großes Thema aufgeblasen. Anscheinend bedrohen diese Piraten das Königreich. Klasse, oder? Hm, leider wird diese Bedrohung den Zuschauern leider nie gezeigt. Dafür sieht man drei Mal Krabben über schreiende Menschen, äh, krabbeln. Keine einzige Szene in der Hauptstadt oder im Palast deutet darauf hin, dass es irgendeine Bedrohung durch die Crabfeeder gebe oder einen Nachteil durch den Krieg oder dass die Crabfeeder überhaupt existieren. (Wie wär’s mit einer Hungersnot in der Stadt, prostestierender Bevölkerung, die zu rebellieren droht, weil wichtige Versorgungswege abgeschnitten sind? Ach, wie leicht hätte man dramatische Szenen schreiben können!) Den Krieg selbst enthalten die Serienmacher den Zuschauern vor. Ein paar Sekunden einer sehr schnell vergessenen Seeschlacht. Glaube ich. Hab’s schon wieder vergessen. Stattdessen sieht man eine belanglose Szene einer sinnfreien Strategiesitzung (was dabei an Plan herauskommt, nach – nicht gezeigten – drei Jahren Krieg, ist so erbärmlich, die Autoren sollten sich schämen, obwohl alles dafür spricht, dass sie die Fähigkeit zur Scham verloren haben). Der Führer, Crabfeeder selbst, wird als Oberbösewicht aufgebaut. So muss es dem arglosen Zuschauer erscheinen. Dann jedoch hat er nicht eine einzige Szene mit irgendjemanden, sagt nie ein einziges Wort und wird am Ende von Königsbruder Damon getötet – einen Zweikampf, den man ebenfalls nicht sieht. Wow. Man sollte meinen, bei so viel Fehlentscheidungen müsse Absicht dahinterstecken. Aber auch die kann ich nicht erkennen.
Wobei wir noch nicht mal die Spitze des Eisbergs abgetragen hätten. Es scheint, als hätte der geniale George R. R. Martin entweder das Schreiben verlernt. Oder hier nur seinen Namen und die Vorlage hergegeben, das Schreiben der Serie an sich jedoch anderen überlassen.

Was Sie in Ihrem Roman zeigen und was Sie erzählen sollten

Welche Ereignisse in Ihrem aktuellen Romanprojekt sind unverzichtbar und entscheidend – für die zentrale Handlung, die Entwicklung der Figuren, die Diskussion des Themas, die emotionale Reise der Leser –, dass Ihre Leser sie Ihnen unbedingt glauben sollten? Dann denken Sie darüber nach, sie in Szenen und Dialoge zu packen.
Was hingegen dient vor allem der Übermittlung von Informationen, die etwas vertiefen oder für das Verständnis wichtig sind? Dies könnten Sie den Erzähler oder Perspektivcharakter zusammengefasst erzählen lassen.
Was könnten Sie weglassen, ohne dass die Leser etwas vermissen würden (denn sie wissen ja nicht, was Sie weglassen)? Ohne dass Sie ihnen Emotionen stehlen oder eine entscheidende Entwicklung oder ein den Roman prägendes Ereignis auslassen? Dann lassen Sie es weg. Der bei Weitem größte Teil eines Romans sind nicht die Wörter, die auf der Seite stehen, sondern die, die eben nicht dort stehen. Und das aus gutem Grund. Weil sie eben nicht zu der Geschichte gehören, die Sie erzählen wollen.

Nachdem ich mit »House of the Dragon« Zeuge der vermutlich grottigsten Stunde TV wurde, die man sich derzeit antun kann, musste ich mich nach der dritten Episode aus der Serie ausklingen, die Seelenpein wurde unerträglich. Aufzuzählen, was allein in dieser einen Episode nicht funktioniert oder erzählerisch dumm, schlecht oder katastrophal ist, würde den Rahmen dieses Newsletters sprengen, und ein Buch darüber zu schreiben, würde mich mehrere Magengeschwüre durchleiden lassen.
Das eigentlich Bemerkenswerte aber ist nicht die miese oder nicht vorhandene Qualität, so etwas findet man ja häufiger. Sondern dies: Die Serie hat gute Kritiken eingeheimst und scheint wohl auch einem Großteil der Zuschauer zu gefallen. Was überhaupt der Auslöser war, mich eingehender mit der Frage nach mehrheitlich geteilten Kriterien für die Qualität einer Story zu befassen.

Auch Sie haben die Serie genossen, verfolgen die aktuellen Episoden mit Genuss und Spannung? Ab Episode 4 wird schlagartig alles besser? Wunderbar. Dann aber her mit Ihren Kriterien! Welche legen Sie an für eine gelungene Geschichte und welche davon finden Sie wo in »House of the Dragon«? Erzählen und erklären Sie es mir, damit auch ich wieder was dazulerne: Schreiben Sie mir …

Was haben Sie zuletzt gelernt, schreiberisch, erzählerisch? Woher? Und warum finden Sie gerade dieses Gelernte so wichtig? Auch das würde mich interessieren: Schreiben Sie mir …

Bleiben Sie anspruchsvoll, neugierig, wissensdurstig!

Stephan Waldscheidt

Meine Schreibratgeber: schriftzeit.de/handwerk

Befriedigen Neugier und Wissensdurst. Nur für Anspruchsvolle 😉