Dieses Gefühl im Leser ist die emotionale Superkraft für Ihren Roman: Das Gefühl für (Un-)Gerechtigkeit

Sie kennen diese berühmte Methode, einen Charakter sofort als sympathisch einzuführen, um so auf schnellem Weg eine emotionale Verbindung zu den Lesern herzustellen. Manche nennen das »Save the cat«, andere »Pet the dog«. Welchem Haustier auch immer Sie in Gestalt Ihrer Romanfigur Gutes angedeihen lassen möchten: Die Wirksamkeit der Methode ist gering. Das liegt zum Teil daran, dass sie so abgenudelt ist, dass selbst Story-Zivilisten (= nicht schreibende Menschen) sie als Trick durchschauen, als billigen noch dazu. Zum Teil aber ist die Methode auch darum wenig interessant für Sie, weil es eine sehr viel bessere gibt. Der Clou daran: Diese Methode können Sie direkt auf die »Rette die Katze« draufsetzen, dann haut sie so richtig rein.

Beispiel: George wird eingeführt (Ist das Leben nicht schön?)

Sehen wir uns dazu den (konkurrenzlos) rührendsten und besten Weihnachtsfilm aller Zeiten an (Falls Sie anderer Meinung sind, haben Sie entweder keine Ahnung oder kein Herz oder Ihnen fehlt beides. Tut mir echt leid für Sie. Was die Ahnung betrifft, kann ich weiterhelfen, was das Herz betrifft, so wenden Sie sich an Parship oder an den Internisten Ihres Vertrauens.). Ich spreche natürlich von »Ist das Leben nicht schön«. Der Film von 1946 ist seiner Qualitäten wegen so gut gealtert wie nur sehr wenige aus dieser Zeit. (Drehbuch: Frances Goodrich, Albert Hackett, Jo Swerling, Frank Capra; Regie: Frank Capra)

Der Held George (als Erwachsener gespielt von James Stewart) darf in der Vorgeschichte gleich zwei Katzen retten:

Im Jahr 1919 rettet der 12-jährige George seinem jüngeren Bruder Harry das Leben, als dieser beim Schlittenfahren ins Eis einbricht. Bei der Rettungsaktion zieht George sich eine schwere Erkältung zu, durch die er dauerhaft das Hörvermögen auf seinem linken Ohr verliert.
Nach seiner Genesung arbeitet er nachmittags in der Apotheke des alten Mr. Gower. Eines Tages erhält George von Mr. Gower den Auftrag, ein Medikament für einen schwerkranken Jungen auszuliefern. Versehentlich gibt Gower, der an diesem Tag vom Tod seines Sohnes erfahren und sich daraufhin betrunken hat, George anstelle des Medikaments Gift mit. George bemerkt den Fehler und rettet damit sowohl das Leben des Kindes als auch das von Mr. Gower. Als Gower erfährt, dass George das Medikament nicht ausgeliefert hat, schlägt er wütend auf George ein. Ausgerechnet (natürlich!) auf Georges kaputtes linkes Ohr. Als Gower dann die Wahrheit erfährt, ist er untröstlich und drückt George und bittet ihn um Verzeihung.

Doch diese Szenen sind keine simplen Katzenrettungsszenarien. Ihre emotionale Wucht, die dafür sorgt, dass die Zuschauer George ins Herz schließen, kommt von etwas Zusätzlichem. Das sehen wir uns genauer an.
George rettet seinen Bruder vor dem Ertrinken.
Toller Kerl, diese George. Die meisten Autoren würden es dabei bewenden lassen. Was aber George für die Zuschauer zu weit mehr als nur einem tollen Kerl macht, ist das, was danach passiert: George verliert sein Hörvermögen. Auch das könnte man isoliert stehen lassen. Auch das würden die meisten Autoren genau so handhaben. Die Zuschauer haben Mitleid mit dem Jungen, der so früh schon auf einem Ohr taub wird.
In »Ist das Leben nicht schön« aber führt einer der Aspekte erst zu dem anderen: Weil George seinen Bruder rettet, verliert George sein Hörvermögen. Das wirkt auf die Zuschauer wie ein Opfer, das George für den Bruder bringt, selbst wenn es gar kein Opfer war. Aber Fakten zählen weniger als Emotionen. Die Zuschauer empfinden das so und darum mögen Sie George ein Stück mehr.
Doch das Eigentliche kommt erst noch.
Es ist die Frage nach gerecht und ungerecht, nach fair oder unfair.
Dass George vom Schicksal oder Gott bestraft wird dafür, dass er seinen Bruder gerettet hat, kommt den Zuschauern extrem unfair, besonders ungerecht vor. Erst diese Emotion, das verletzte Gerechtigkeitsempfinden, bringt die Zuschauer dazu, sich gefühlsmäßig so fest an George zu binden. Sie lieben ihn nicht, weil er den Bruder gerettet hat. Sie lieben ihn nicht dafür, dass er halb taub ist. Sie lieben ihn wegen der Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren ist.

Die zweite Szene, die mit dem Apotheker Mr. Gower, ist da beinahe schon zu viel des Guten. Doch sie kann dennoch bleiben, weil sie keine reine Kopie der Bruderrettung ist und damit George endgültig zum Helden erhebt.
Vieles aber ähnelt sich zunächst: George rettet den Apotheker (vor dem Gefängnis und vor Schande und vor seinem Gewissen). Dem Jungen rettet George sogar das Leben. Wie schon seinem Bruder.
Die Variation kommt in der Sache mit dem Gerechtigkeitsempfinden. Das wird hier nämlich noch unmittelbarer angesprochen als bei der Bruderrettung mit Ohrentzündung. Zudem sind die Zuschauer direkte Zeugen (während sie die Ohrentzündung als längeren Prozess ja nicht miterleben): Sie sehen dabei zu, wie der Apotheker (den George gerade gerettet hat!) auf George einschlägt. Wenn das mal nicht auf brutalste Weise ungerecht ist! Dass Gower George auf sein wehes Ohr schlägt, verstärkt die Sache.
Es wird sogar noch besser. Die Szene kann ihre emotionale Wirkung auch deshalb so gut entfalten, weil Mr. Gower ja im Grunde ein guter Mensch ist. Und das zeigt er dann auch mit seinen Freudentränen und dem, wie nett er George behandelt, nachdem er verstanden hat, was da eigentlich passiert ist.
Hier missverstehen sich also zwei kerngute Menschen. Und das aufgelöst zu sehen, rührt jeden Zuschauer mit dem Herzen am rechten Fleck.
Hinzu kommt damit der Kontrast, die Fallhöhe bei der emotionalen Achterbahnfahrt: George entdeckt den Fehler mit dem Gift (runter), George rettet Menschen (rauf), George wird geohrfeigt (runter), Gower und George versöhnen sich (rauf).

Beispiel: Dumini soll Satchel erschießen (Fargo)

Sehen wir uns noch ein ganz aktuelles Beispiel an, aus der TV-Serie »Fargo« (Staffel 4) und analysieren wir die Varianten davon und was die Veränderungen bewirken. Damit können Sie anschließend auch Ihren Roman aufwerten.

Unser Beispiel stammt aus Episode 6 der Staffel (Autoren: Noah Hawley and Enzo Mileti & Scott Wilson and Francesca Sloane, Regie: Dana Gonzales). Darin wird Anton Dumini, ein Angehöriger der Mafia-Familie Fadda, damit beauftragt, eine Geisel zu töten: Satchel, den als Faustpfand gehaltenen Sohn des gegnerischen Verbrecherbosses Loy Cannon.

Variante 1: Dumini führt den nichtsahnenden kleinen Jungen zu einem abgelegenen Ort, um ihn zu exekutieren. Er zückt die Pistole – und wird von hinten erschossen.

Die klassische Szene und zugleich die Klischeelösung, der 90 Prozent der Autoren in einem solchen Fall folgen. Bei Zuschauern und Lesern läuft das so durch. Eben weil es eins von zwei erwarteten Resultaten war: Dumini schießt oder er schießt nicht.

Variante 2: Dumini führt den nichtsahnenden kleinen Jungen zu einem abgelegenen Ort, um ihn zu exekutieren. Er zückt die Pistole. Dann aber überkommen ihn die Skrupel. Er steckt die gezückte Pistole wieder weg. Kaum hat Dumini das getan, wird er erschossen.

Auch diese Variante entspricht den Erwartungen von Zuschauern und Lesern: Dumini überlegt es sich anders. Die Überraschung dann ist der Schuss, der Dumini tötet.
Aber das ist weit mehr als eine Überraschung. Denn die Tötung erscheint Zuschauern und Lesern ungerecht. Dumini hatte seine Waffe doch schon weggesteckt! Dieses Gefühl, einem unfairen Akt beigewohnt zu haben, erhöht das Maß der Emotionen in Zuschauern und Lesern. Dadurch erleben sie die Szene intensiver – und sind auf einem höheren Gefühlslevel für die folgenden Szenen. Das Überraschende an der Tötung verstärkt das noch.

Variante 3:

Die Emotionen der Zuschauer und Leser können Sie noch steigern. Wie in dieser Variante, der tatsächlich gezeigten:

Dumini führt den nichtsahnenden kleinen Jungen zu einem abgelegenen Ort, um ihn zu exekutieren. Ein Auftrag, der dem eher zurückhaltenden und freundlichen Mann merklich gegen den Strich geht. Er zückt die Pistole. Dann aber überkommen den Familievater Skrupel. Er steckt die gezückte Pistole wieder weg. Kaum hat Dumini das getan, wird er erschossen. Von Rabbi, der sich selbst zum Schutzengel des Jungen berufen hat.

Hier erhöhen Sie das Gefühl der Unfairness in Zuschauern und Lesern sogar noch. Denn Dumini ist eben kein brutaler, gewissenloser Mafia-Hitman. Sondern ein zurückhaltender, freundlicher Familienvater. Klar also, dass ihm sein Auftrag nicht nur gegen den Strich geht, sondern zutiefst seinem Wesen widerspricht. Die Zuschauer und Leser haben Sympathien für diesen Mann. Sie fühlen mit, spüren sein Dilemma. Sie wollen, dass Dumini das Richtige tut und den Jungen am Leben lässt.
Umso größer ist dann ihre Erleichterung, als Dumini das tatsächlich tut, nachdem er schon die Pistole gezogen und angelegt hatte. Sie sind eben nicht nur des Jungen wegen erleichtert, wie in den Varianten oben. Sondern auch wegen Dumini, der sich keinen monströsen Kindsmord auf sein Gewissen geladen hat.
Umso stärker der Schock und danach das Gefühl der Ungerechtigkeit. Wie oben im Beispiel mit George und dem Apotheker sind auf diese Weise Kontrast und Fallhöhe größer – und die Emotionen der Zuschauer und Leser intensiver.

Also so, wie Sie sie haben wollen.

 

Praxistipps: So stärken Sie mit dem Gefühl der Ungerechtigkeit Ihren Roman und die emotionale Bindung Ihrer Leser

Sehen Sie sich Ihren Roman an. Wo tut ein Guter etwas Gutes? Können Sie das verstärken, indem Sie das Gute mit etwas Schlechtem vergüten (wie in unseren Beispielen Lebensrettung gegen Prügel oder gegen einen tödlichen Schuss)? Können Sie es noch weiter verstärken, indem Sie die Leser stärker mit dem Charakter fühlen lassen, dem Ungerechtigkeit widerfährt? Sehen Sie sich dazu an, wie wir die Varianten mit Dumini immer weiter verbessert haben.
Die tatsächlich gefilmte Variante 3 ließe sich sogar noch steigern: indem die Leser und Zuschauer vorab mehr Zeit mit Dumini verbringen, mehr von seinen guten Seiten kennenlernen. Oder wenn Sie Dumini verletzt am Leben lassen, er aber nicht glaubhaft machen kann, dass er den Jungen verschonen wollte – und man ihm für seine Untat die eigenen Kinder wegnimmt.
Sie sehen: Mehr geht immer. Hauptsache, Sie geben sich nicht zu schnell zufrieden.
Das Ausnutzen des Gerechtigkeitsgefühl der Leser ist ein potentes Mittel und daher perfekt für Schlüsselmomente in Ihrem Roman. Wie etwa bei der Charaktereinführung (George) oder bei einem wichtigen Wendepunkt im Plot (Dumini). Wenn Sie an solchen Stellen noch Ungerechtigkeit oder Unfairness einbauen, machen Sie die schon starken Momente noch einmal stärker. Und Ihre Leser zu Fans.

Der Ursprung …

Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit gründet in einem der wichtigsten Leitsprüche überhaupt für das Schreiben eines herausragenden Romans: „Vergelte Gutes mit Schlechtem und Schlechtes mit Gutem„. Wenn Sie dies tun, können Sie Ihre Leser wieder und wieder überraschen. Wie alle Methoden mit dieser Macht funktioniert auch diese nur dann, wenn Sie sie sparsam und gezielt einsetzen. Sprich: Vergelten Sie Gutes durchaus häufiger mit Gutem und Schlechtes entsprechend. Aber ab und zu drehen Sie den Spieß um. Die Leser lieben es und Ihren Roman dafür umso mehr!

 


Wie Sie die Emotionen in Ihrem Roman stärken, erfahren Sie hier:

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