Missverständnisse: Ein explosiver Konfliktstoff für Ihren Roman

Konfliktreiche Folgen von Missverständnissen

Die Diskrepanz zwischen dem, was gesagt oder vermittelt, und dem, was gehört und verstanden wird, kann eine Schlucht sein, gegen die der Grand Canyon nicht mehr ist als eine Ritze im Hintern.
Aus Missverständnissen entstehen Kriege (»Mein Fehler, Herr Leutnant, ich bin aus Versehen auf den Abzug gekommen«). Oder Kinder (»Mein Fehler, Schatz. Ich dachte, du hättest Pille gesagt, nicht Rille.«).
Aus Missverständnissen entstanden sind leider auch die übelsten Filmklamotten der letzten hundert Jahre (siehe den üblen Pille-Witz oben). Was zeigt, wie potent Missverständnisse beim Zeugen von Konflikten, ähem … wie effektiv Missverständnisse beim Erschaffen von Konflikten sind: Selbst die schlechtesten Autoren kriegen damit noch eine Story hin.
Aber Missverständnisse sind zu ertragreich, um sie den schlechten Autoren zu überlassen. Sie können ebenso gut einen wunderbaren Roman schreiben, in dem ein Missverständnis eine kleine oder größere oder sogar die Hauptrolle spielt.
Oder einen Wendepunkt in der Handlung anstößt. Für eine Begegnung sorgt. Vielleicht gar für tiefe Gefühle …

Überwältigt von Gefühlen, Kälte und Schlafmangel vergieße ich bittere Tränen, während ich meine Zigarette rauche. Sie erlischt. Gedankenverloren hole ich mein Feuerzeug heraus, das in einer silbernen Hülle steckt, ausgerechnet ein Geschenk von Antoine, um sie wieder anzuzünden. Doch es entgleitet mir. Ich stoße einen gellenden Schrei aus, während das Feuerzeug auf den Abgrund zudriftet. Unwillkürlich beuge ich mich über das Brückengeländer, um es aufzufangen, und strecke die Hand danach aus.
Voller Schrecken spüre ich, wie jemand von hinten meine Taille umfasst. Dieses Mal verrät mein Schrei Überraschung und Entsetzen. Ich werde zur Seite geschleudert und zu Boden geworfen. Dann nehme ich eine dunkle Gestalt wahr, die sich über mich beugt. Ein Mann. Korpulent. Ich mache eine abwehrende Bewegung. Mein Gott, was will dieser Kerl von mir? Ich liege hier in einem verlassenen Park auf dem Boden, der Gnade eines Perversen ausgeliefert. Ich habe Todesangst …
Der Mann überragt mich und greift brüsk in meine Richtung. Instinktiv schütze ich mein Gesicht und will ihm gerade einen Tritt gegen seine untere Körperhälfte verpassen, als ich im letzten Augenblick bemerke, dass er die Hand ausstreckt, um mir zu helfen, mich wieder aufzurappeln. Ich gewinne meine Fassung zurück und nehme weitere beruhigende Hinweise wahr – die Mütze, das Abzeichen … Der Mann ist ein Parkwächter!
Er hilft mir hoch. Damit halte ich das Ganze für erledigt. Doch er hält mich fest, als wolle er mich erdrücken. Verdammt! Vielleicht verstehe ich das falsch …
»Das sollten Sie nicht tun«, murmelt er mir vertraulich ins Ohr.
Was, um Gottes willen?, frage ich mich, gleichermaßen beunruhigt und verärgert. Ich versuche, mich aus der aufgezwungenen Umarmung zu befreien. »Monsieur, bitte hören Sie auf, Sie tun mir weh.«
Endlich lässt er mich los und betrachtet mich mit ernster Miene, meine durch Tränen und Schlaflosigkeit verquollenen Augen. Besorgt und gerührt umfasst er meinen Oberarm und zieht mich gewaltsam mit sich. »Kommen Sie, folgen Sie mir.«
»Aber … was …«
»Nein, nein, nein, sträuben Sie sich nicht. Sie können doch nicht hierbleiben. Sie werden in meiner Hütte etwas Warmes trinken und mir berichten, was Ihnen zugestoßen ist. In solchen Fällen ist das Gespräch sehr wichtig …«
»Das ist sehr liebenswürdig, aber mit mir ist alles in Ordnung, Monsieur, ich …«
Er wendet sich mir zu. Sein Blick drückt aus, dass Widerspruch sinnlos ist.
»Keine Diskussion. Es ist keine Schande, in gewissen Augenblicken des Lebens Hilfe zu benötigen …«
»Aber ich brauche keine Hilfe!«
Der Mann lächelt voller Mitgefühl. »Das sagen immer diejenigen, die am meisten Hilfe benötigen. Ich kenne mich da aus …«
Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Es handelt sich hier um ein Missverständnis: Er sieht mich auf der Selbstmörderbrücke, die Augen von Tränen verquollen, ein einsamer Schatten im Nebel, wie ich mich weit über das Brückengeländer beuge, bei dem sinnlosen Versuch, das Feuerzeug aufzufangen …
Raphaelle Giordano, »Du und ich und Amors Pfeile«, Heyne 2022

Konfliktmäßig toll an Missverständnissen: Sie neigen dazu, weitere Missverständnisse zu provozieren. Hat man einmal etwas falsch verstanden, passt man das womöglich in sein Weltbild ein, und die gutgemeinte Aufklärung wird dann leicht abermals missverstanden. Ein Konflikt, der zum Selbstläufer wird! Also auch noch etwas für bequeme Autoren.

Banale Kommunikationsfehler können Konflikte zum Äußersten treiben. Dazu gehören Missverständnisse etwa aufgrund unterschiedlicher Interpretation. So mag jemand den Satz »Du bist der Beste« buchstäblich nehmen oder als Sarkasmus oder ihn gar als Beleidigung verstehen.

Andere Störungen in der Kommunikation entstehen durch Umwelteinflüsse, etwa zu viel Lärm oder zu grelles Licht. Denken Sie hierbei auch an Vorstufen von Fehlern: Irritationen. So kann ein permanentes Hundegebell im Hintergrund einem der Streitenden so auf die Nerven gehen, dass er überreagiert. Ein anderer Konfliktgegner mag schlicht zu erschöpft sein, um deeskalierend auf den anderen einzuwirken.

Die Missverständnisse mit dem größten dramatischen Potenzial sind solche, die klein beginnen, die Auseinandersetzung in eine andere Richtung lenken, dabei aber den, der für das Missverständnis gesorgt hat, im Unklaren darüber lassen, dass der anderen ihn missverstanden hat. In solchen Fällen wirkt es umso überraschender und auch krasser, wenn der Konflikt jäh eskaliert.

Missverständnisse eignen sich zur Eskalation eines Konflikts, zum Etablieren von neuen Konflikten und sogar für überraschende Wendungen.

In der zweiten Staffel der TV-Serie »The White Lotus« (USA 2022) über die Gäste eines Luxushotels in Sizilien verbringen die Eheleute Harper und Ethan eine Nacht getrennt. Während Harper mit einer Freundin in einem Palazzo nächtigt, feiert Ethan mit Kumpel Cameron im White Lotus Party – mit zwei Prostituierten.
Die Zuschauer erwarten, dass auch der brave, treue Ethan unter dem Einfluss des Alkohols Harper untreu wird.
Doch das geschieht – zu ihrer Überraschung, Erleichterung und Enttäuschung – nicht. Anders als Cameron widersteht Ethan der Versuchung, mit einem der Mädchen zu schlafen. Harper indes macht sich Sorgen, fragt sich, wieso sie Ethan telefonisch nicht erreicht. Nachdem sie am nächsten Tag wieder zusammen sind, will sie genau wissen, was Ethan in der vergangenen Nacht getan hat. Ethan wiegelt ab, erzählt von dem Besäufnis mit Cameron, verschweigt aber die Prostituierten.
Da findet Harper eine leere Kondompackung in ihrer und Ethans Suite. Kein Zweifel für sie: Ethan hat sie betrogen.
Der Fund der Kondompackung überrascht die Zuschauer, da sie schon gedacht hatten, Ethan könne die Partynacht nicht mehr um die Ohren fliegen. Stattdessen gärt nun ein innerer Konflikt in Harper: Wie soll sie mit der Situation umgehen? Soll sie Ethan konfrontieren? Sich gleich trennen? Doch auch zwischen den Eheleuten ist ein Konflikt entstanden, eine dramatisch besonders interessante Variante: ein sehr ungleichmäßig verteilter Konflikt. Zwar spürt ihn auch Ethan – Harper spricht nicht mehr mit ihm und er weiß nicht, wieso –, aber Harper empfindet ihn ungleich stärker.
Auch hier haben wir wieder eine Diskrepanz, die für noch intensivere Konflikte sorgen kann. Und für weitere Missverständnisse. Das ist dann der Fall, wenn eine Konfliktpartei sehr viel mehr weiß oder sehr viel emotionaler involviert ist als die andere. Wenn einer eine Sache abtut, die für den anderen das Wichtigste auf der Welt ist, bedeutet schon diese Diskrepanz alleine weiteren Konfliktstoff, unabhängig von dem, worum es im Kern geht. Für Ihren Roman und Ihre Leser: mehr Drama.
Gerade in engen Beziehungen eignen sich solche Diskrepanzen bestens für maximale Dramatik. Während in unserem Beispiel aus »The White Lotus« den Parteien die Diskrepanz nicht bewusst ist, lösen Sie mit bewusster Diskrepanz ebenfalls starke Konflikte aus. Denken Sie an ein Lehrer-Ehepaar, Martina und Claude, die an derselben Schule arbeiten. Nun ergattert Martina den Platz der Schuldirektorin und ist auf einmal Claudes Chefin. Die daraus resultierenden Konflikte, sowohl auf der Arbeit als auch zu Hause, schreiben sich praktisch von selbst (sofern Sie die Charaktere gut kennen und ihre Persönlichkeiten aufeinanderprallen). Claude versichert Martina, er wäre stolz, ist es auch, aber er ist vor allem neidisch. Martina versucht, Claude nicht anders zu behandeln als die anderen Lehrer und sorgt dadurch für neue Konflikte.

Missverständnisse (und auch jeden anderen Konfliktstoff) können Sie noch brandgefährlicher machen, indem Sie ihm einen zweiten, dritten, vierte Konfliktstoff beimischen.

Doch Achtung! Wie in der Chemie auch, passen nicht alle Stoffe zusammen und nehmen sich gegenseitig Kraft.

Missverständnis mit ungerechter Behandlung

Einen gelungenen Weg zeigt uns Joseph Knox, der ein Missverständnis mit ungerechter Behandlung kombiniert. Das Gefühl, dass eine (beliebte) Figur ungerecht behandelt wird, funktioniert in vielen Fällen als Brandbeschleuniger, da er für intensivere Emotionen der Leser sorgt. Sprich: Der Konfliktstoff, hier das Missverständnis, wird intensiver wahrgenommen.
In »Smiling Man – Das Lächeln des Todes« findet Ermittler Aidan Waits ein Tütchen Drogen, als er in einer Kneipe mit einem Zeugen spricht. Er steckt das Tütchen ein und – da es keine Relevanz für seinen Fall hat – vergisst er es.
Kurz darauf will er zum Fundort einer Leiche. Chef-Forensikerin Stromer jedoch will ihn nicht zum Fundort lassen – Aidan hat eine Vorgeschichte als jemand, der Drogen nimmt und Beweismaterial deponiert oder verschwinden lässt. Er muss seine Taschen leeren. Stromer sieht das Tütchen – und sieht sich in ihrem Vorurteil über Aidan bestätigt. Sie will ihn suspendieren lassen.
Es ist ein Missverständnis, und zwar eins mit einem Turbo im Hintern. Die Leser sind empört über die Ungerechtigkeit, die Aidan widerfährt. Dass er sich, seiner Vorgeschichte wegen, nicht glaubhaft herausreden, nichts überzeugend erklären kann, verstärkt dieses Gefühl der Ungerechtigkeit noch: Die Leser empfinden Aidans Hilflosigkeit mit und fühlen sich damit noch enger verbunden mit dem Roman und seinem Protagonisten.

Missverständnisse als Konfliktstoff sind eine Möglichkeit, Ihren Roman mit mehr Drama und damit mit mehr Spannung & Suspense aufzuladen.

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