Die drei Regeln, wie man einen Roman zu schreiben hat. Im Ernst? Im Ernst.

Kürzlich fiel mir ein Lesezeichen mit einem berühmten Zitat in die Hände.

Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman zu schreiben hat. Dummerweise kennt sie niemand.

Zugeschrieben wird es W. Somerset Maugham, einem englischen Erzähler und Dramatiker, der zu den meistgelesenen englischsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts zählt.
Das Zitat ließ mich nicht mehr los. Gibt es tatsächlich drei zentrale Regeln oder Vorgaben? Die für jeden Roman gelten? Und wie könnten diese lauten? Selbst wenn ich darauf keine Antworten finden sollte, so dachte ich, würde ich bei der Suche gewiss Aufschlussreiches zum Romaneschreiben entdecken.

Ich habe tatsächlich und zu meiner eigenen Überraschung mehr als das entdeckt. Vorweg und um Sie zu versichern, dass wir hier nicht nur ziellos rumphilosophieren: Am Ende dieses Artikels werden wir tatsächlich drei Regeln definiert haben.

Eine Schreibregel ist eine Regel ist keine Regel?

Zunächst einmal hadere ich mit dem Wort »Regel«. Regeln heißen »Du musst!«. Aber müssen müssen Romanautoren nichts. Tatsächlich? Ah, richtig, da fällt mir doch ein Muss ein: Du musst schreiben, um einen Roman zu schreiben! Was so banal klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Denn wie viele Möchtegern-Romanciers treiben sich herum, die von ihrem Roman sprechen, ihre wahnsinnig cleveren Ideen dazu verbreiten, nur um dann mit einem Satz zu enden wie »Wenn ich mal wieder mehr Zeit habe, schreibe ich das Ding runter.« Wem, als echtem Autor, als echter Autorin, ist noch nie ein solcher Mensch begegnet? Ich sehe niemanden von Ihnen aufzeigen. Dachte ich mir.
Ist das mit dem Schreiben nun das einzige Muss, die einzige Regel? Wenn das so wäre, hätten wir nicht viel gewonnen. Denn der Nutzen für die Arbeit am Roman, für echte, also vor allem: schreibende Autoren ist eher gering.

Reicht Schreiben alleine aus? Nein. Nach dem Schreiben kommt das Überarbeiten. Ein Roman in der Rohfassung ist keiner. Das werden selbst die Genies unter den Autoren bestätigen. In der Überarbeitung – besser: den Überarbeitungen – wird die krude Erstfassung lesbar gemacht und zu einem sinnvollen, in sich logischen Gesamtwerk erhoben. Regel zwei könnte also lauten: Du musst überarbeiten.
Ich rechne hier nicht mit Widerspruch. Aber vielleicht, weil auch diese Regel jedem (schreibenden) Autor selbstverständlich erscheinen wird. Der praktische Nutzen dieser »Regel« ist auch hier: beschränkt.
Ist ein Roman ein Roman, wenn ihn niemand liest? Macht ein umstürzender Baum im Wald ein Geräusch, wenn niemand da ist, der das Niederkrachen hört? Als naturwissenschaftlich orientierter Mensch ist das für mich keine Frage. Ein Roman braucht also keine Leser, um ein Roman zu sein. Auch nicht, wenn seine Autorin oder sein Autor der einzige Leser ist? Meditieren Sie mal darüber. Während wir weitersuchen.

Was muss ein Roman für Leser leisten?

Die Zahl drei lässt mich nicht los. Wenn es keine drei Muss-Regeln gibt, dann vielleicht etwas anderes. Wechseln wir mal von der Schreiberseite auf die Seite der Leser. Was muss ein Roman für Leser leisten?

Die erste Regel für das Schreiben eines Romans

Ein Roman soll Leser unterhalten. Im weitesten Sinne heißt Unterhaltung »nicht langweilen«. Hm. Wieso eigentlich gibt es für das Gegenteil kein Verb? Statt »unterhalten« könnte man doch ebenso gut »kurzweilen« schreiben … Ja, das Verb »kurzweilen« erscheint mir weiter gefasst als »unterhalten«. Unterhaltung klingt immer ein wenig nach »Hirn ausschalten ausdrücklich erwünscht«. Aber kurzweilen kann man sich ja auch bei intellektuellen Anforderungen, denken Sie an das Rätselraten bei Krimis, ebenso kurzweilt man sich bei ästhetischen Genüssen, etwa einer schönen Sprache. Ihre Leser sollen Ihren Roman gern lesen. Sie sollen ihn neugierig und begeistert in die Hand nehmen, auch nachdem sie eine Pause einlegen mussten. Sie sollen die Zeit vergessen, in den Roman eintauchen, über ihn schmunzeln. Mit den Figuren hadern, sie anfeuern, über sie und die Ereignisse der Story nachdenken. Ihr Roman als der schönste Weg, sich die Zeit zu vertreiben!
Also fassen wir das so: Schreiben Sie so, dass Sie Ihre Leser kurzweilen!
Diese Regel gefällt mir. Ich würde sie tatsächlich als Regel bezeichnen. Weil es zumindest ein Sollte für einen Roman ist. Bei diesem geht es ja nicht primär um fachliche Wissensvermittlung oder sozialpolitische Bildung. Wenn es das doch tut, haben wir im Umkehrschluss keinen Roman. Sondern ein Fachbuch, ein Sachbuch, ein Pamphlet, Traktat, suchen Sie sich was aus.

Die zweite Regel für das Schreiben eines Romans

Was soll ein Roman noch? Ganz klar: Er soll seine Leser berühren. Ihnen also ein emotionales Erlebnis verschaffen. Der Spielraum für Sie ist endlos. Vom schenkelklopfenden Brachialhumor über nervenzermürbende Spannung bis hin zu melancholisch-poetischen Charakterstudien – jede Emotion ist besser als keine. Sofern Sie, aufgepasst, auch die Regel eins – du sollst kurzweilen! – beherzigt.
Auch diese Regel wird klar, wenn wir uns das Gegenteil ansehen. Was wäre ein Roman, der keinerlei Emotionen in den Lesern auslöst? Weder Spannung noch Freude, weder Mitgefühl noch Hoffnung? Das klingt bestenfalls nach einer anstrengenden Lektüre, die sich bei einem Fachbuch lohnen mag, bei einem Roman aber eher auf eine schauderhafte Quälerei der Leser hinausläuft. Ganz nebenbei erteilt diese Regel Absagen an Pamphlete, Info-Schuttplätze, rein intellektuelle Spielchen und egozentrisches Geseire.
Wir sollten diese Regel ergänzen. Was schon die dritte Regel tut, die wir uns gleich ansehen. Hier zunächst mal: Emotion ist nicht gleich Emotion. Ein Roman, der seinen Lesern von Anfang bis Ende nur emotionalen Einheitsbrei vorsetzt, ist eine ebenso schlechte Idee wie Romane, die ihre Leser von vorne bis hinten runterziehen und frustrieren und ihnen die abgrundtiefe Sinnlosigkeit von allem aufzeigen wollen. Niemand will solche Texte lesen. Sie sind nicht einmal realistisch. Denn so grau und grausam manche Leben sein mögen, wer will, entdeckt selbst dort ab und an einen Funken Schönheit, ein Aufblitzen von Hoffnung.
Emotionen leben zudem von Kontrast. Liebe sticht nur hervor, wird überhaupt nur dann spürbar, wenn es auch Nicht-Liebe gibt, also Gleichgültigkeit oder Hass.
So könnten wir unsere zweite Regel etwas präziser fassen. Wie wäre es damit: Ein Roman soll seine Leser auf vielfältige Weise emotional berühren und mindestens einen Funken Hoffnung mitschwingen lassen.

Die dritte Regel für das Schreiben eines Romans

Diese ersten beiden Regeln ergeben jedoch noch keinen Roman, der sich rund anfühlt, der zumindest ein bisschen Tiefe mitbringt. Ein guter Roman verhandelt, mehr oder weniger deutlich, stets auch Werte. Er konfrontiert die Leser mit Fragen wie »Wie soll ich leben?«, »Welche Entscheidung, welches Verhalten ist richtig, welches falsch?« und vor allem: »Wer bin ich? Was für eine Art Mensch?«
Ein guter Roman lässt einen Leser mit diesen Fragen nicht allein, obwohl er keine definitiven Antworten gibt. Stattdessen zeigt er den Lesern Anhaltspunkte, welche Fragen sie sich selbst stellen können und wie sie diese Antworten, ganz individuell, für sich entdecken. Ein guter Roman schafft, zumindest ein wenig, Ordnung in einer durch und durch chaotischen Welt. Er ist wie ein leuchtender Faden der Ariadne im Labyrinth des Lebens – er zeigt einen möglichen Weg, ohne den Anspruch zu haben, den einen, den besten, den richtigen zu zeigen.
Ein guter Roman lügt, erfindet, phantasiert, damit die Leser ihre Wahrheiten darin finden. Die Wahrheit, die die Leser in einem Roman für sich finden, ist wahrer als jede, die der Autorin hineinsteckt.

Ein guter Roman verändert nicht nur oder nicht unbedingt seine Helden. Aber er verändert seine Leser.
Die dritte Regel könnte also lauten: Ein Roman soll seinen Lesern die Suche nach einem Sinn in ihrem Leben und die Suche nach sich selbst erleichtern.

Das war’s. Das sind meine Vorschläge für Maughams drei Regeln, wie man einen Roman zu schreiben hat.

Was meinen Sie? Können Sie mit den Regeln etwas anfangen? Haben Sie Ihre eigenen? Ich bin gespannt auf Ihre Ideen: blog@schriftzeit.de

Die drei Regeln und die drei Ebenen eines Romans

Nicht von ungefähr korrespondieren diese drei Regeln mit den drei Ebenen, die ein Roman jedes Genres mindestens haben sollte:
Die erste und sichtbarste der Ebenen: Handlung (Plot und Charaktere).
Die zweite Ebene: Emotionen (insbesondere Spannung und Suspense).
Die dritte Ebene: Sinn (Werte).

Sie können weitere Ebenen in Ihrem Roman hinzufügen, je nachdem, was Ihnen wichtig ist. Beispielsweise die Vermittlung von Wissen, eine politische Botschaft, Ihre Sprachästhetik.

Die drei Regeln für das Schreiben eines Romans — in der Praxis

Was bedeuten die drei Regeln nun konkret für Ihr Schreiben? Diese Regeln funktionieren ebenso als Ziel Ihres Schreibens wie als Ausgangspunkt. Ich stelle sie mir wie Prüfpunkte vor, an denen Sie Ihren Roman messen können und messen sollten – und war nicht nur am Ende, sondern auch zwischendurch immer wieder. Das können Sie, beispielsweise, dann tun, wenn Sie eine Szene geschrieben haben, als grundlegende Checkliste:
»Kurzweilt die Szene meine Leser?«
»Berührt die Szene meine Leser – auf abwechslungsreiche und nicht ausschließlich negative Weise?«
»Verhandle ich in der Szene eine der für mich wesentlichen Sinnfragen meines Romans?«
Oder Sie prüfen es später bei der Überarbeitung. Je erfahrener Sie im Romaneschreiben sind, desto eher in Ihrem Prozess sollten Sie die Regeln überprüfen, denn desto besser und einfacher können Sie gegensteuern, Fehlendes ergänzen oder Vorhandenes verdeutlichen.
Wer schon ein geübter Plotter ist, sollte diese Regeln bereits beim Plotten mitdenken. Denn dann finden Sie leichter und schneller Ideen zur Einhaltung, Verdeutlichung, Vertiefung.

Diese drei Fragen eignen sich auch dazu, Sie Ihren Testlesern/Betalesern zu stellen – und zwar auf Ebene des ganzen Romans wie auch auf der einzelner Handlungsstränge/Perspektiven, Kapitel und Szenen.
Die Frage nach der Kurzweil ist für die Testleser sicher am leichtesten zu beantworten. Schon die Abfrage der Emotionen erfordert einige Erklärungen von Ihnen. Das mit dem Sinn ist am schwierigsten, da ja im Idealfall am subtilsten. Aber mit Anleitung von Ihrer Seite sollte das klappen und Ihnen aufschlussreiche Antworten liefern.

Ich bin sicher, allein schon die Beschäftigung mit diesen drei Fragen hat Ihnen ein paar Ideen für Ihren Roman und vielleicht sogar für die konkrete Szene, an der Sie gerade schreiben, geliefert. Am Ende nützt es Ihrem Roman am meisten, wenn Sie die Regeln nicht als ein einschnürendes »du musst!« betrachten, sondern als ein aufmunterndes, inspirierendes »du solltest«. Denn am Ende sind Sie die Autorin oder der Autor. Und auch wenn es Regeln und »Regeln« gibt oder jemand wie ich das behauptet, zwingt Sie niemand, sich daran zu halten. Selbst wenn es vermutlich zu Ihrem Besten und zum Besten Ihres Romans ist.

Am Ende sind wir wieder bei der ersten Regel vom Anfang dieses Artikels. Die einzige verbindliche Muss-Regel ist diese: »Autor, du musst schreiben!«

Dann mal weiter im Text.


Meine Ratgeber zielen darauf ab, wie Sie in Ihren Romanen diese drei Regeln bestmöglich umsetzen. Werfen Sie mal einen Blick hinein …

schriftzeit.de/rat