Mit dieser Emotion fangen Sie jeden Leser …

// Foto: Rhea Seehorn alias Kim Wexler by Gage Skidmore CreativeCommons

Das »Breaking Bad«-Prequel »Better call Saul« gehört ohne Zweifel zu den am besten geschriebenen TV-Serien. In jeder Episode können Sie als Autor eine Menge dazulernen und Ihr Schreibinstrumentarium erweitern. Beste Unterhaltung bietet die Serie außerdem – und mit Saul Goodman einen der unvergesslichen Charaktere der Fernsehgeschichte. Erwischt, ja, ich liebe diese Serie.

Die dritte Episode der fünften Staffel, »The Guy for This« (geschrieben von Ann Cherkis), zeigt das einmal mehr auf eindrucksvolle Weise.

In einem der Subplots muss Sauls Lebensgefährtin, die Anwältin Kim Wexler, sich für ihren Auftraggeber Mesa Verde um einen störrischen Hausbesitzer kümmern. Der alte Everett Acker weigert sich, sein Grundstück zu räumen, obwohl es ihm juristisch gesehen nicht länger gehört. Kim argumentiert wie stets rational und freundlich und bietet Acker einen sehr guten Deal an, der weit über das hinausgeht, was ihm rechtlich zusteht.

So würde ein schlechter Autor das weiterführen:

Nach einigem Zögern nimmt Acker den Deal an und Kim ist happy.
Die Leser wären es nicht. Die Szene würde nichts zum Plot oder zu den Charakteren beitragen. Der Konflikt wäre bei Weitem nicht ausgereizt.

So geht es in »Better call Saul« weiter:

Acker lehnt ab und beleidigt Kim. Sie reagiert sauer und hart und macht Acker klar, dass die Polizei ihn vom Grundstück zerren wird. Den guten Deal könne er vergessen. Mesa Verde ist zufrieden mit Kims hartem Auftreten, sie selbst jedoch hat ein schlechtes Gewissen.

So würde ein mittelmäßiger Autor die Story weiterführen:

Kim fährt nach Hause und spricht mit ihrem Lebensgefährten Jimmy (Saul) über den störrischen Alten, redet sich den Frust vom Leib.

So geht es in »Better call Saul« weiter:

Auf der Heimfahrt von Acker erinnert Kim sich an ihre Kindheit, die auch von Zwangsräumungen und heimlichen Fluchten in der Nacht bestimmt war. Also stellt sie für Acker Angebote von Immobilien zusammen und fährt noch einmal, außerhalb ihrer Arbeitszeit, zu ihm. Sie erklärt ihm die Angebote und appelliert an seine Gefühle, indem sie von ihrer Kindheit erzählt und eine Menge von sich preisgibt. Sie bietet Acker am Ende sogar an, ihm in ihrer freien Zeit beim Umzug zu helfen.

Das ist schon mal ziemlich gut. Die Leser erfahren so eine Menge über Kim, über ihr Wesen und auch über ihre Backstory. Und das auf eine unaufdringliche, natürliche Art und Weise ohne Informationsmüllkippe. Kims innerer Konflikt in der Serie – der Versuch, gut zu sein und das Richtige zu tun – wird deutlich.

So würde dieser gute Autor die Story womöglich weiterführen:

Nach einigem Hin und Her ist Acker bereit, sich die Immobilien anzusehen und darüber nachzudenken. Am nächsten Tag ruft er Kim an und sagt, er würde sein Grundstück räumen. Sie hätte ihn davon überzeugt, dass sie keine herzlose Anwältin ist, kein reiches Mädchen, das alles tut für ihre Zwecke. Schnitt zum Umzug, wo Acker und Kim einander beim Möbelschleppen anlächeln.

Die Leser sind erleichtert und freuen sich mit Kim über ihren Erfolg. Ein Happy End.

Gut aber ist nicht gut genug, bei Weitem nicht. Denn dies würde auch Kims inneren Konflikt lösen, ihrem Kampf, gut zu sein, obwohl ihr Lebensgefährte immer weiter auf die dunkle Seite des Gesetzes rutscht. So geht es in »Better call Saul« weiter:

Nachdem Kim sich ihm gegenüber so weit geöffnet hat, bleibt Acker ungerührt. Sie würde, sagt er, alles tun, um ihre Ziele durchzusetzen. Und knallt die Tür vor ihrer Nase zu.
Kein Happy End für diese Episode von Kims Subplot. Kim legt ihr Herz offen, zeugt sich verletzlich – und bekommt doch nur Undank dafür.

Warum ist diese Variante so viel besser? Nichts gegen ein Happy (Zwischen-)End hier und da. So etwas ist wichtig im Lauf jedes Romans, damit die Leser ein Auf und Ab von Emotionen durchleben können. Doch intensivere Emotionen – hinauf ins Gute wie hinunter ins Schlechte – sind besser als eine flachere Emotionskurve.

Die Autorin Ann Cherkis erreicht hier dieses Intensivere, indem Sie mit einer Emotion arbeitet, mit der auch Sie jeden Leser fangen können: Cherkis erzeugt ein starkes Gefühl der Ungerechtigkeit in den Lesern. Obwohl die gute Kim sich so verletzlich gemacht hat, obwohl sie Zeit und Aufwand investiert hat und bereit ist, noch mehr zu investieren, obwohl sie im Recht ist und dennoch zurückstehen will, erhält Kim dafür nichts zurück. Das wird von den Zuschauern als zutiefst ungerecht empfunden. Es ist ein universelles Gefühl und es sorgt hier dafür, dass die Herzen der Zuschauer sich Kim gegenüber weit öffnen.

Mit dieser starken Emotion auf ihrer Seite wird Kim die Zuschauer im Folgenden noch sehr viel enger an die Story binden können, für noch sehr viel mehr Spannung sorgen (erinnern Sie sich an die Spannungsformel und den Faktor »Engagement der Leser« …), als es die Kim geschafft hätte, die dem alten Acker lächelnd beim Umzug hilft. Auch muss sie ihren Kampf fortführen, diesen inneren Konflikt, gut zu sein, gut zu bleiben und das (moralisch) Richtige zu tun.

Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit schreit in uns Menschen nach Ausgleich. Wir wollen Gerechtigkeit wiederhergestellt sehen. Und lesen oder schauen gebannt weiter …

PS: Die ersten fünf Staffeln von »Better call Saul« gibt es bei Netflix oder hier als DVD (https://amzn.to/2RzMiZh). Die sechste und letzte Staffel wird gerade gedreht.

Weiterführende Lektüre …

Spannung & Suspense: Die Spannungsformel für jedes Genre (Paperback und E-Book)

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