Wie nahe holen Sie den Leser heran?

Was Sie sich vor der Wahl der Erzählperspektive klarmachen sollten

Romanfiguren werden für die Leser zu Vertrauten

In unseren so virtuellen Zeiten, in denen der gewöhnliche Leser mehr Zeit vor Bildschirmen und Buchseiten verbringt als vor einem menschlichen Gegenüber, ist die emotionale Bindung an einen oder die Identifikation mit einem virtuellen und fiktiven Charakter wichtiger als zu analogen Zeiten.
(Corona dürfte das sogar noch verstärken.)
Was zunächst paradox klingt, leuchtet bei kurzem Nachdenken ein: Früher hatten die Leser ihre Bindungen fast ausschließlich im realen Leben, sie mussten sie nicht im Fernseher, auf der Kinoleinwand, in einem Magazin oder auf dem Smartphone suchen. Die Geschichten, die unsere Vorfahren sich erzählten, konnten von Göttern handeln oder von Hexen und Kobolden, die nichts mit dem Leben der Menschen zu tun hatten, oder sie waren Klatsch und Tratsch und damit sehr nahe an ihrem Leben. Diese zunehmende Virtualität wird ergänzt von der Übersättigung des modernen Menschen mit Eindrücken und auch mit fiktiven Charakteren aus Serien, Filmen, Games, Comics und Büchern, plus den kaum realer wirkenden Menschen in den Sozialen Medien, in Zeitungen, den Nachrichten. Kein Wunder also, dass für viele Leser Romanfiguren nur noch dann funktionieren, wenn sie sich ihnen eng verbunden fühlen können.
Andererseits hat auch die Distanz eine Berechtigung, denn viele Leser ziehen sie zu großer Nähe vor. Ihnen hilft die Distanz zu den Ereignissen einer Geschichte, um ihr eigenes, zu intensives (was meistens heißt: zu stressiges) Leben abzutönen. Sie wollen gar nicht in die Haut eines anderen schlüpfen, sondern genießen es, die Ereignisse aus der Ferne zu betrachten und sich einmal nicht mit hochkochenden Emotionen zu befassen, mal über den Dingen zu stehen und nicht mittendrin zu stecken. Männer scheinen eher zu dieser Gruppe zu gehören, denn selbst die raren Romanleser unter ihnen bevorzugen häufig die eher nüchternen Genres wie Krimi oder Hochliteratur.

Bei der Frage nach der Auswahl der Erzählperspektive geht es daher um sehr viel mehr als nur darum, welches Personalpronomen Ihnen sympathischer ist. Eine Frage, die Ihnen bei der Wahl hilft, und eine der ersten Fragen, die Sie für sich klären sollten, ist die nach der Nähe, die der Leser zu Ihren Figuren und insbesondere zu Ihren Protagonisten empfinden soll. Je näher der Leser an den Figuren ist, desto eher identifiziert er sich mit ihnen und desto bereitwilliger, leichter und tiefer versinkt er in Ihrem Roman.

Ein bestimmtes Maß an Nähe oder Distanz des Lesers zu Charakteren und Story herzustellen ist Ihr Ziel – die Erzählperspektive und deren Ausgestaltung sind die Mittel, mit denen Sie es erreichen.

Wollen Sie den Leser möglichst dicht an Ihre Charaktere heranbringen? Das kann sinnvoll sein, wenn Sie eine enge emotionale Bindung zwischen Leser und Figur anstreben.
Oder möchten Sie sie auf Abstand halten? Das ist womöglich dann die bessere Lösung, wenn Sie objektiv oder aus einer ironischen Distanz erzählen. So lacht es sich leichter über Figuren, denen man weniger nahe ist. Auch um die Gefühle des Lesers zu schützen, kann mehr Distanz sinnvoll sein. Denken Sie beispielsweise an einen Handlungsstrang aus der Perspektive eines psychopathischen Kindermörders – zu viel Nähe über zu viele Seiten könnte das Lesen hier buchstäblich zur Qual machen.

Was genau meinen wir mit der Nähe des Lesers zu einem Charakter?

Stellen Sie sich zwei Personen in einem Zimmer vor (Ihrem Wohnzimmer), die Romanfigur und den Erzähler. Wenn Sie sehr nahe erzählen, stellt der Erzähler sich neben die Figur, drückt seine Wange gegen ihre und schaut in dieselbe Richtung. So nahe, Wange an Wange, sehen beide das Gleiche, sie riechen sogar das Gleiche, und wenn die Romanfigur einen Bissen von ihrem Teller nimmt, steckt sich auch der Erzähler einen Bissen vom selben Teller in den Mund. Der Erzähler, leicht telepathisch begabt, hört aus dieser Nähe auch, was die Romanfigur denkt, und der Erzähler, stark empathisch, fühlt auch, was die Romanfigur fühlt.
Wenn sich Ihr Erzähler jedoch von der Romanfigur entfernt und sich ans andere Ende des Zimmers stellt, sieht er vielleicht nicht mehr exakt das Gleiche, sein Geruchssinn nimmt Düfte schwächer wahr und auch Gedanken werden nicht mehr alle empfangen, die Gefühle werden nicht mehr so ganz genau nachempfunden. Trotzdem bleibt das Erzählen personal im Sinne eines begrenzten Wissens, weil beide, Erzähler und Figur, sich dennoch am selben Ort befinden und zum Beispiel nur undeutlich hören, was in der Küche nebenan vor sich geht und nicht davon sehen, was im Keller, zwei Stockwerke tiefer, geschieht.

Neben dieser Nähe zu den Charakteren können wir auch eine Nähe zu den Ereignissen oder zum Thema betrachten. So mag ein auktorialer Erzähler durch sein Zutagetreten zwar die Nähe zu den Charakteren stören, zugleich aber mehr Nähe zu dem herstellen, was sich ereignet. Oder eine spannende Diskussion der im Roman verhandelten Werte schildern – und holt so die Leser bei Wertefragen nahe heran, bleibt den Charakteren dabei aber fern. Letztlich stellen sich die zentralen Fragen: Was wollen Sie beim Leser erreichen? Und was wollen Ihre Leser?
Denken Sie etwa an Frank Schätzings Romanbacksteine wie »Der Schwarm« oder »Limit«. Darin gelingt es ihm gut, die Leser nahe an die Ereignisse und an das Thema heranzuholen. An die Charaktere holt er sie jedoch kaum heran. Die Nähe ist eine eher intellektuelle, kopfgesteuerte Nähe, und genau das, was Leser in dieser Art Romane suchen.
Emotional am nächsten aber kommen die Leser Ihrem Roman dann, wenn sie mit den Charakteren mitfiebern und sich mit ihnen identifizieren. Idealerweise sorgt dann diese Nähe zu den Figuren auch für eine Nähe zu Handlung und Thema. Logisch: Wir interessieren uns mehr für Ereignisse, wenn uns die Menschen nahe sind, denen diese Ereignisse passieren.

Wie nahe holen Sie den Leser heran? An Ihre Protagonisten, an die Story, an das Thema Ihres Romans? (Eine verwandte Frage, ebenso wichtig: Und wie nahe an sich selbst?) Erst wenn Sie das herausgefunden haben, ist es Zeit, sich für eine Erzählperspektive zu entscheiden.

Womit Sie sich bei der Wahl und Ausgestaltung der Erzählperspektive ebenfalls befassen sollten, ist die Wahl von Erzähler und Erzählstimme. Denn neben dem Klappentext ist es vor allem der Erzähler und seine Stimmne, der den Leser in Ihren Roman hineinzieht. Oder eben nicht.

Wie Sie das anstellen, verraten Ihnen diese beiden Bücher: