Konflikte im Roman: Warum Sie nicht bis zum Äußersten gehen sollten – sondern darüber hinaus

Konflikte sind der Treibstoff für jeden Roman. Ja, auch für Ihren. So weit, so bekannt.
Tatsächlich? Sind Sie sicher?

Die meisten Autoren gehen mit Konflikten um wie die meisten Autofahrer mit Benzin oder Diesel: Auf der einen Seite verschwenderisch, sie lassen den Motor laufen, fahren unnütz in der Gegend herum oder kaufen Autos, bei denen die PS-Zahl und »hohes Sitzen« (SUV) wichtiger sind als der Treibstoffverbrauch. Auf der anderen Seite verwenden sie den Treibstoff ineffizient – und ineffektiv.
Die meisten Autoren fahren mit einem minderwertigen Treibstoff und erzielen so selbst im besten Fall daraus nur eine sehr suboptimale Leistung. Der Wirkungsgrad ihrer Konflikte ist also gering.

Der Wirkungsgrad bezeichnet den Wert, den ein Motor aus der zugeführten Energie tatsächlich in Leistung umsetzen kann. Selbst moderne Verbrennungsmotoren mit Direkteinspritzung und elektronischer Motorsteuerung nutzen weniger als 40 Prozent der zugeführten Energie, selbst die besten Dieselmotoren kommen nicht auf 50 Prozent.
Der Wirkungsgrad eines Verbrennungsmotors hängt also von der jeweiligen Kraftstoffart und der Technik ab. Der Wirkungsgrad Ihres Romans auch. Die Kraftstoffart ist die Art Ihres Konflikts, die Technik die Art, wie Sie mit dem Konflikt schreibhandwerklich und literarisch umgehen.

Wie erhöhen Sie den Wirkungsgrad Ihrer Konflikte?

Wie erhöhen Sie den Wirkungsgrad Ihrer Konflikte?
Erster Schritt: Indem Sie die Konflikte ausreizen und bis zum Äußersten gehen, erreichen Sie einen Wirkungsgrad von, sagen wir, maximal 75 Prozent.
Der zweite Schritt … führt uns zur Netflix-Serie »Ozark«, deren vierte und letzte Staffel gerade in Produktion geht. Die Serie ist herausragend geschrieben (tiefe Verbeugung vor den Autoren), vor allem die erste und die dritte Staffel.
Worum geht’s? Finanzgenie Marty Byrde sieht sich gezwungen, mit seiner Frau Wendy und den Kindern Charlotte und Jonah von Chicago nach Missouri zu ziehen, in die Ozarks, ein ausgedehntes Seengebiet und Sommerresort. Um sich und seine Familie vor einem mexikanischen Drogenboss zu schützen, muss er für diesen dort Geld waschen, etliche Millionen Dollar. Das Damoklesschwert hängt permanent über den Byrdes, jeder Fehler, jeder Rückschlag, jeder Ungehorsam kann der letzte sein. Bye, bye Byrdie …

Hut ab vor den Autoren der Serie „Ozark“. Sie verstehen etwas von Konflikten.

In der zweiten Staffel haben Marty und Wendy zur effizienten Geldwäsche ein Casino aufgebaut. Nun, in der dritten Staffel, Episode 2, will Wendy für Kartellboss Navarro ein zweites Casino kaufen, in dem alles legal ablaufen soll; eine Art Sicherheit für Navarros Kinder, falls die Behörden jemals Navarros illegale Geschäfte lahmlegen würden. Wendy will die Sache auch ohne Marty durchziehen, da dieser den Kauf als zu riskant ablehnt. Das zweite Casino würde, so Marty, sie noch tiefer in Abhängigkeit von Navarro und damit in Lebensgefahr treiben. Sieht so aus, als hätten wir schon hier einen Konflikt, einen Beziehungskonflikt, also einen inneren Konflikt in der Beziehung und einen äußeren zwischen den Ehepartnern.

Eigentümer des Casinos »Big Muddy« ist ein älteres Ehepaar, Carl und Anita Knarlson. Big Muddy schreibt tiefrote Zahlen, seit am Pier gegenüber ein modernes Casino(schiff) mit großem Hotel eröffnet hat. Lange werden die Knarlsons ihr schwimmendes Casino so nicht mehr (und ganz buchstäblich) über Wasser halten können.
Wendy und, überraschend, Marty treffen sich gemeinsam mit den Eigentümern, um über den Kauf zu verhandeln. Eine Verhandlung ist eine der klassischsten Konfliktsituationen, die Szene sollte sich von selbst schreiben.
Die meisten Autoren würden die Verhandlungen daher als Hin und Her zeigen, eine Szene, die durchaus spannend und dramatisch sein könnte und in der am Ende die Byrdes den Zuschlag bekämen.
Das passiert eben, wenn sich eine Szene von selbst schreibt. Wirkungsgrad: maximal 25 Prozent.

Die Autoren von »Ozark« wissen und können es besser. Was geschieht dort?

Die Verhandlungen scheitern. Am Ende der Szene(n) sind die Fronten anscheinend unauflöslich verhärtet. Ausgerechnet Marty selbst ist es, der die Verhandlungen zum Scheitern bringt. Nachdem Anita Knarlson schon zugestimmt hat, beeinflusst Marty in einem heimlichen Zwiegespräch Carl Knarlson, sodass dieser den Verkauf ablehnt.
Wirkungsgrad: 25 Prozent. Die Einsätze sind gestiegen, da der Keil zwischen Marty und Wendy droht, die angeschlagene Ehe endgültig zum Scheitern zu bringen. Wendy wird Drogenboss Navarro einen anderen Deal schmackhaft machen müssen, keine leichte Sache.

Wendy aber gibt nicht so leicht auf, zumal Navarro persönlich ihr droht. Wendy nimmt Navarros Anwältin Helen mit in die nächsten Verhandlungen mit den Knarlsons, die eigentlich gar nicht mehr verhandeln wollen. Dieses Mal weiht Wendy Marty nicht ein. Wendy und Helen bieten den Knarlsons eine solche Summe, dass selbst Carl dann doch nicht anders kann, als zuzustimmen.
Marty erfährt von dem neuerlichen Gespräch und Wendys Erfolg. Wieder untergräbt er den Verkauf, indem er dafür sorgen lässt, dass auf Big Muddys Konkurrenzcasino ein Brand ausbricht und es auf lange Zeit eben keine Konkurrenz mehr darstellen wird.
Die Knarlsons glauben nun, Morgenwind zu wittern – und springen dann doch noch und zum zweiten Mal vom Verkauf ab.
Wirkungsgrad: Vielleicht so 70 Prozent. Die Einsätze von Marty und Wendy sind stark gestiegen, da Wendy mit dem Misserfolg Navarro vor den Kopf stößt, und Marty eine noch größere Schuld bei der Spediteursmafia von Kansas City anhäuft, die den Anschlag auf das Konkurrenzcasino für ihn durchgeführt hat. Der Konflikt zwischen Wendy und Marty hat sich ebenfalls verschärft – und statt ihre Familie zu schützen, bringen sie sie mit ihrer jeweiligen Halsstarrigkeit nur weiter in Gefahr.

Die Autoren von »Ozark« sind mit dem Konflikt bis zum Äußersten gegangen.

Die Autoren von »Ozark« sind mit dem Konflikt bis zum Äußersten gegangen. Tun Sie das auch? Serien wie »Ozark« sind das, wogegen Sie anschreiben. Warum sollte jemand Ihren Roman lesen, wenn er oder sie »Ozark« schauen könnte?
Doch bis zum Äußersten gehen, reicht den Autoren der Serie noch nicht. Sie gehen weiter – und darum sollten auch Sie in Ihrem aktuellen Romanprojekt noch weiter gehen.
Doch nicht irgendwie. In zu vielen Romanen hat man den Eindruck, dass die Autoren meinen, ein »mehr« allein reicht oder mit einem »extremer« hätten sie ihren Job getan. Statt einen Konflikt aufs Äußerste zu treiben, wird einfach der Mord noch ein wenig grausamer gemacht, wird noch ein Adjektiv mehr dazu gepackt oder die Sprache melodramatisch hochgedreht. Das alles sind nur Scheinlösungen. Die Leser durchschauen sie sofort.

Arbeiten Sie an Ihren Konflikten und an den Einsätzen (also dem, was für die Charaktere auf dem Spiel steht, wenn sie scheitern). Denn damit erhöhen Sie die Spannung und damit den Anreiz – nein: das dringende Bedürfnis – weiterzulesen. Nicht damit, dass sie statt einem Mal dreimal schreiben, wie sehr Alina ihren Fred doch liebt. Oder der Leiche nicht nur den Kopf abhacken, sondern ihr auch noch ein mit einer Gottesanbeterin gefülltes Marmeladenglas in den Hals stecken, von wegen Symbolik und so. Finden Sie für Ihren Roman Konflikte und Lösungen, die in der Story und den Charakteren liegen. So wie bei »Ozark«, wo die genannten Konflikte eben auch die Charaktere sowohl bloßlegen als auch weiterentwickeln.

Bis zum Äußersten zu gehen, ist nicht immer genug

Dort geht es so weiter:
Ruth, eine Mitarbeiterin von Marty und Wendy, kommt auf die Idee, die Spielautomaten von Big Muddy per Computertrick zu manipulieren – um Wendy den Kauf dann doch noch zu ermöglichen. Mit einer Horde von bestellten Spielern bringen Wendy und Ruth das Casino an den Rand des Ruins. Wendy bietet ein drittes Mal für das Casino – und erhält zum dritten Mal (und wie es scheint, endgültig) den Zuschlag der Knarlsons. Der Verkauf geht über die Bühne.
Doch das dicke Ende kommt, als direkte Folge des vermeintlichen Triumphs, als direkte Folge der Hartnäckigkeit von Wendy und Marty, als direkte Folge davon, dass Wendy und Marty sich nicht einigen konnten. Der Kauf des zweiten Casinos nämlich lässt in Washington die Alarmglocken schrillen und ruft das FBI auf den Plan. Das rückt im Casino der Byrdes an und nistet sich dort ein, um für mindestens einen Monat jeden noch so winzigen Vorgang zu dokumentieren – und damit de facto Geldwäsche unmöglich macht. O-oh.
Wirkungsgrad: mindestens 90 Prozent. Der Sieg entpuppt sich als Niederlage. Die Spediteursmafia ist sauer, weil Marty seinen Teil des Deals nicht halten kann, und droht mit Konsequenzen. Kartellboss Navarro verlangt von den Byrdes, dass sie trotz des FBI und unter den Augen der Beamten weiter Geld für ihn waschen, sonst: Kopf ab für euch und eure Kinder!
Mit anderen Worten: Die Protagonisten sind (am Ende der Episode) sehr viel tiefer in der Bredouille als zu Anfang. Also genau dort, wo Sie als Autor sie haben wollen.

Zu viele Autoren geben sich zu schnell und mit zu wenig zufrieden. Gehören Sie nicht dazu! Sie wollen doch das Potenzial, das in Ihren Ideen und Ihrer Story, in den Charakteren steckt, nicht verschenken. Sie wollen doch nicht die viele Arbeit umsonst gemacht haben! Geben Sie sich einen Ruck und legen Sie noch eine Extrarunde am Ideenschreibtisch ein. Es lohnt sich. Nur so tauchen Sie aus der Mittelmäßigkeit auf.

Kein Scheiß: Ohne Fleiß kein Preis, ohne Schweiß kein Edelweiß.

Gehen Sie zum Äußersten. Und dann gehen Sie weiter. Sie müssen ja nicht gleich anfangen zu reimen.


Wie aus Konflikten Spannung wird, lesen Sie in meinem Ratgeber „Spannung & Suspense“

Spannung und Suspense von Stephan Waldscheidt

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