Der Bedeutungsverlust der Wörter und wie Sie ihm begegnen

Was nötigt Ihnen Respekt ab? Eine Heldin, ein Krankenpfleger, Ihre Mutter? Als Autorin oder Autor sollten Sie in jedem Fall einem Respekt zollen: der Sprache und ihren Wörtern. Was selbstverständlich klingt, ist es längst nicht mehr. Und ich meine hier nicht über das anale Rechthabenwollen bei grammatikalischen Spitzfindigkeiten, wie man es bei vielen Fans von Bastian Sick und dem Zombie-Genetiv findet. So sehr ich Sick und seine Verdienste um unsere Sprache auch Respekt zolle. Mir geht es hier um etwas Grundlegenderes, etwas, das banal anmutet: die Bedeutung der Wörter.

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Bei den Deutschzivilisten (= Nicht-Autoren) gerät der Umstand mehr und mehr in Vergessenheit, dass man ein Wort deshalb benutzt, weil es eine Bedeutung hat. Im Unterschied zum fluffigen Füllmaterial, das durchaus (sic!) seine Berechtigung haben kann, für den Klang etwa.
In den Medien findet sich zunehmend unbedacht Hingerotztes, das eben die Bedeutung vergisst, ignoriert, verrät. Etwa in der folgenden Überschrift einer regionalen Sonntagszeitung:
»Entscheidung war leider alternativlos«. Der Satz stammt nicht von einem Journalisten, sondern von einem Befragten. Aber ob es dem Journalisten aufgefallen ist, dass er hier Unsinn zitiert? Denn was ist denn eine Entscheidung anderes als die Auswahl zwischen Alternativen? Eine alternativlose Entscheidung gibt es daher ebenso wenig wie einen schwarzen Schimmel, eine stumme Sängerin, ein steinaltes Baby.
Wörter haben eine Bedeutung. Hätten sie das nicht, wären sie bloß Symbole auf einem Medium. Damit dürfen sich die abstrakten Kunstmaler befassen. Wir Autoren aber brauchen die Bedeutung der Wörter – denn nur sie geben unseren Texten Sinn.

Leider greift das unbedachte Hinschreiben von Wörtern auch bei Romanautoren und -innen mehr und mehr um sich. Und das betrifft, sehr wahrscheinlich, auch Sie. Ja, Sie auch. Mich ebenfalls, wie ein Durchsuchen dieses Textes mit dem Wörterläusekamm zeigen dürfte.
Was also können wir tun, damit unsere Texte nicht buchstäblich an Bedeutung verlieren?

Zunächst erkennen, wie es anfängt. Anfangen tut es in vielen Fällen mit der Verwendung von Klischees und stereotypen Wortcombos. Solche Begriffe oder Begriffspaare gehen uns leicht von der Hand, ganz automatisch, und genau das ist der Knackpunkt. Es geht so leicht, dass diese substanzlose Bedeutungszuckerwatte mühelos unser Bewusstsein unterwandert, sprich: Wir schreiben unbedacht, also ohne uns bewusst zu machen, was genau wir da eigentlich schreiben. Bei der Rohfassung geht das in Ordnung, bei der Überarbeitung schon nicht mehr; wenn Sie Unbedachtes jedoch Agenten, Lektoren oder Lesern vorsetzen, endet das in vielen Fällen fatal für Ihren Roman, für Ihr Buch.

Nehmen wir die Kombination »erste Anzeichen«. Anzeichen sind immer etwas, was am Anfang steht, sie deuten auf etwas hin. Das noch zu pseudospezifizieren mit »erste« ist überflüssig. Doch man hat es eben schon tausendmal gelesen, dieses »erste Anzeichen«, also schreibt man es getreulich (um nicht zu sagen: treudoof) hin. Millionen Fliegen können nicht irren? Oh, und ob.
(Hier empfehle ich eins der besten Sachbücher, das ich je gelesen habe: »Schnelles Denken, langsames Denken« von Nobelpreisträger Daniel Kahneman. Nach der Lektüre werden Sie die Welt und sich selbst mit neuen Augen sehen. Und, ja, das ist etwas Gutes.)

Tückisch auch sind Redundanzen in Begriffen, und auch diese vermeiden Sie, indem Sie sich die Bedeutung der Komponenten verdeutlichen. Beispiel: »unappetitliche Pampe«. Eine Pampe ist per Definition etwas Unappetitliches. Dem Begriff genau dieses Attribut voranzustellen, ist doppelt gemoppelt. Dito ein Satz wie „Sie schreckte schlagartig aus dem Schlaf auf.“ Ein Aufschrecken geschieht immer schlagartig.

Stilistisch unschön ist es, wenn Sie einem vagen Substantiv das Vage dadurch zu nehmen versuchen, dass Sie dem Wort ein Attribut beistellen: ein (vages) Gefühl wird spezifiert zu einem »beklemmenden Gefühl«. Dabei ließe sich das eleganter lösen, denn es existiert für das beklemmende Gefühl ja ein eigenes Substantiv: die Beklemmung.

Vieles davon mag sich noch nicht dramatisch auf den Text und seine Wirkung auf die Leser auswirken, manches bleibt, wie so oft bei Stilfragen, Geschmacksache. Also ignorieren und weitermachen wie bisher? (Die bevorzugte Lösung für fast jedes Problem. Die das Problem selten löst.) Lieber nicht.

Denn richtig fies wird das Ganze, wenn das, was Sie behaupten, dem widerspricht, was Sie zeigen. Hier sollten Sie besonders genau hinschauen und hinhören. Denn ein Blick in die Manuskripte der Autoren, mit denen ich arbeite, aber sogar die Analyse von Bestsellern legt nahe: Das Problem greift um sich. Bevor es pandemische Ausmaße erreicht, sollten wir die Sache stoppen.
Ein solcher Fehler unterläuft Ihnen etwa dann, wenn Sie kein klares Bild der zu schreibenden Szene vor Ihren Sinnen haben. Oder wenn Sie eine Abkürzung suchen – besonders beliebt dafür: Adjektive und Adverbien, und in vielen Fällen suboptimal – dabei aber den Kontext vergessen. Ein ähnlicher Fehler unterläuft Ihnen auch dann, wenn Sie den Text in eine bestimmte Richtung zwingen wollen und das mit einer Behauptung zu erledigen meinen, das Gezeigte aber nicht verändern.
Beispiel: Sie zeigen eine Frau, die gemütlich und entspannt in einem Buch liest, sie summt unbewusst vor sich hin, genießt den Sonnenschein in ihrer Leseecke im Garten. Dann erinnern Sie sich daran, dass die Frau ja gerade von der Entführung ihrer Tochter erfahren hat. Und »lösen« das, indem Sie ihr das Attribut »panisch« verpassen.
Eine echte Lösung aber wäre gewesen, die Szene neu zu visualisieren: Wie verhält sich eine Frau, die gerade von der Entführung ihrer Tochter erfahren hat? Vielleicht rennt sie zwischen dem Kinderzimmer und dem Telefon hin und her, wählt den Notruf, legt sofort wieder auf, weil die Entführer ja jeden Polizeikontakt verboten haben. Also zurück ins Kinderzimmer, wo sie ihr Gesicht im Schlafanzug ihres kleinen Mädchens vergräbt. (Nebenbei: Auch hier lauern Klischees, jedoch weniger im Sprachlichen als im Inhaltlichen.)
Warum aber folgen viele Autoren diesem Rat nicht? Obwohl sie es durchaus besser wissen oder doch besser wissen könnten? Weil das Adjektiv »panisch« in einer Sekunde hingeschrieben ist, das Neuschreiben der Szene von Anfang an jedoch eine Stunde dauert. Nicht Prokrastination, Grammatik oder Lektoren sind des Autors schlimmster Feind – es ist die eigene Trägheit.

Dass selbst Bestseller vor diesem Problem nicht gefeit sind, zeigt ein Beispiel aus einem Roman von Andreas Eschbach. (Ja, auch Bestsellerautoren sind nur Menschen, also können Sie auch einer werden, ein Mensch oder ein Bestsellerautor, suchen Sie es sich aus).
Darin wird der wohl mächtigste Mann der Welt gezeigt, ein Multimilliardär, der überall seine Finger hat, ein klassischer Machtmensch, der auch so beschrieben wird. Dann aber passiert es: Machtmensch geht mit Aktenköfferchen in eine seiner Niederlassungen, hat es eilig. Da kommt ein unbedeutender Unterling auf ihn zu, ein winziges Rädchen im Machtgetriebe des Mannes. Diese Frau will ihm das Köfferchen abnehmen, um es für ihn zu tragen. Machtmensch aber zieht das Köfferchen an seine Brust – eine Geste, die Angst und Ohnmacht zeigt – und erklärt noch, wieso er ihr das Köfferchen nicht geben kann. Auch diese Erklärung bedeutet, dass er die Macht an die Frau abgibt. Beides ergibt im Kontext des Romans keinen Sinn und soll ganz offenbar auch nicht so gelesen werden, die Frau spielt tatsächlich nur die Rolle des Unterlings und der Machtmensch soll hier keine Schwäche zeigen. Damit das Behauptete gezeigt wird, hätte Machtmensch den Unterling beispielsweise schlicht ignorieren müssen.
Hier fallen Absicht des Autors und Tatsache des Texts deutlich auseinander, so deutlich, dass sie einen Riss im Gefüge des Romans verursachen. Für mich war das der Zeitpunkt gewesen, aus dem Roman auszusteigen.

Neben der Trägheit spielt noch ein Faktor mit, wenn die genannten Probleme Ihren Roman belasten: das Beherrschen des Handwerks, sowohl in sprachlicher als auch in erzählerischer Hinsicht. Und das ist eine gute Nachricht. Denn je besser Sie werden, desto eher fallen Ihnen solche Fehler auf, und desto effektiver, eleganter, schneller können Sie sie beseitigen.

Alles kein Problem, Waldscheidt, wir sind keine Anfänger mehr. Den Rest beheben das einfach in der Überarbeitung.
Wäre es denn so simpel! Denn natürlich wissen Sie, was die Wörter bedeuten, aus denen Sie Ihre Romane bauen oder weben. Und gerade weil das so ist, ziehen Sie das einmal Hingeschriebene nicht mehr in Zweifel. Eine böse Falle.
Grammatik und Rechtschreibung, Schönklang und Interpunktion, erzählerische und inhaltliche Fehler, um all das kümmern Sie sich beim Überarbeiten. Doch wann ziehen Sie tatsächlich beim Überarbeiten in Betracht, was ein Wort bedeutet? Hier bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als an den oben genannten Stellen genauer hinzuschauen:
Passen Attribute (mithin das Behauptete) und das Gezeigte zusammen? Funktioniert meine Abkürzung mittels Adjektiv tatsächlich oder beißt sie sich mit dem, was schon dasteht? Sagen Wort und Kontext das Gleiche? Und immer wieder: Wo verbergen sich Klischees, sprachlicher und inhaltlicher Art?
Dabei, und grundsätzlich beim Überarbeiten, sollten Sie eins im Hinterkopf behalten: Unser Hirn ist so gepolt, dass es uns als korrekt vorgaukelt, was es schon einige Male gelesen hat. Fehler werden auf diese Weise unsichtbar – und das ist keine Metapher. Wir können Sie dann tatsächlich nicht mehr wahrnehmen.
Da hilft nur, die Last der Korrektur auf weitere Augenpaare zu verteilen. Und wenn Sie schon einen Betaleser oder Korrektor beschäftigen, dann bitten Sie ihn oder sie doch künftig, besonderes Augenmerk auf die Bedeutung der Wörter zu richten.

Damit Ihre Romane Ihren Lesern eine Menge bedeuten.

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