Schreibtipps von Michelle Obama und ihrer Biografie

BECOMING: Meine Geschichte

Die Autobiografie von Michelle Obama ist sogar in Deutschland ein Bestseller. Etwas aus dem Handwerkskasten des Romanautors hat dabei mitgeholfen.

Der Anfang geht so:
Als Kind hatte ich einfache Ziele. Ich wollte einen Hund haben.
(Michelle Obama, »Becoming – Mein Geschichte«, Goldmann 2018)

Für das ungeübte Auge erscheinen diese beiden Sätze banal, als Einstieg harm- und belanglos. Tatsächlich zeigt Michelle Obama (oder ihre Lektorin) damit jedem Romanautor, wie man es macht.
Warum ist dieser Einstieg so effektiv?

1. Schon im ersten Satz sagt uns Obama, dass sie ein Ziel hatte.
Ziele sind es, die den Helden durch den Roman ziehen. Auf sie arbeitet er hin, für sie tut er alles. Ziele geben der Story eine klare Richtung. Oder auch mal nur einer Szene.

2. Im zweiten konkretisiert sie dieses Ziel. Sie will einen Hund.
Unkonkrete Ziele sind fast schlimmer als gar keine. Dinge wie »sie will eine Karriere« oder »er möchte so gerne mehr Nähe zu seiner Familie« sind zu vage. Der Leser weiß nicht genau, was der Charakter damit meint. Deshalb kann er nie sagen, wie nahe oder fern der Charakter seinem Ziel ist oder ob ein Zwischenfall ihn dem Ziel näherbringt oder ihn weiter davon entfernt.
Wenn Carla bei der nächsten Beförderungsrunde in zwei Wochen den Posten ihrer jetzigen Chefin haben will, ist dieses Ziel relativier- und messbar. Wenn Carla nach einer Woche einen Auftrag an ihren engsten Konkurrenten verliert, weiß der Leser: Sie ist dem Ziel weiter entfernt als zuvor und hat nur noch halb so viel Zeit, es zu erreichen.
Nur konkrete Ziele können konkrete Konflikte bedingen. Wenn Carla eine Karriere will, kann der Rauswurf aus ihrer Firma schlecht sein. Oder gut. Weil sie womöglich in ihrer neuen Firma schneller aufsteigen kann. Will Carla hingegen konkret den Posten ihrer jetzigen Chefin, wäre ein Rauswurf aus der Firma eine Katastrophe, ein gewaltiges Hindernis, ein Konflikt mit hohem Spannungspotenzial.

3. Das Ziel ist nachvollziehbar.
Jeder Leser versteht sofort, was die junge Michelle will. Der Leser kommt dem Charakter näher, weil er ihn besser versteht.
Was, wenn Michelle als kleines Mädchen gerne ein Hund gewesen wäre, einer mit rotem Plüschfell und den Augen einer Katze? Weil sie es sich toll vorstellt, durch den Park mit anderen kleinen Hunden zu rennen und von ihrem Frauchen Leckerli zu bekommen.
Ähm, okayyy… Irgendwie drollig, das Ziel, aber so richtig nachvollziehen können es die meisten Leser wohl nicht.

4. Das Ziel ist vertraut.
Viele Leser hatten als Kinder denselben Wunsch, das gleiche Ziel: ein Haustier, ob Hund, Katze, Pferd oder Guppy. Der Leser kann sich leichter identifizieren.

5. Das Ziel, einen Hund zu wollen, ist emotional besetzt.

Michelle will ja das Tier wahrscheinlich nicht, um damit wissenschaftliche Experimente durchzuführen. Sondern weil sie Hunde süß findet. Weil sie Liebe geben will und vielleicht selbst ein bisschen mehr Zuneigung spüren möchte. Für ein kleines Mädchen erscheint ein Hund dafür das perfekte Mittel.
Wenn das Ziel emotional besetzt ist, färbt die Emotion auch auf den Charakter der Romanfigur ab.

6. Einen Hund zu wollen, ist ein sympathisches Ziel.
Vergleichen Sie das mit dem Wunsch eines kleinen Jungen, eine Packung Spielzeugsoldaten haben zu wollen. Oder den Wunsch eines Mädchens nach einem Chemiebaukasten. Alles nachvollziehbar. Aber Gegenstände kommen in den Sympathiewerten gegen freundliche Haustiere einfach nicht an.

7. Das so simple, nachvollziehbare und sympathische Ziel wäre bei einem gewöhnlichen Kind eine gute Sache. Doch dass eine Berühmtheit wie die Frau des ehemals mächtigsten Mannes der Welt ein so normales und sympathisches Ziel hat, macht diese Frau selbst sehr viel sympathischer und leichter zu einer Person, mit der sich der Leser identifizieren kann und möchte.

Solche Ziele gleich in der ersten Szene zu etablieren, kann Ihren Charakter in wenigen Sätzen für plastischer, sympathischer, vertrauenswürdiger machen und ihm dem Leser näherbringen als irgendwelche Beschreibungen von der Farbe der Heldinnenbluse oder der Marke des Heldenautos.
Ein kleines Zwischenziel auf dem Weg zum eigentlichen Romanziel ist so einfach erdacht und geschrieben und wirkt sich ebenso schnell wie positive auf Ihren Roman aus.

Warum ein solches Ziel nicht auch in der ersten Szene Ihres Romans einbauen? Sie können nur gewinnen.


Sehr viel mehr darüber, wie Sie Konflikte verschärfen, verrät Ihnen mein Ratgeber „Spannung & Suspense“