Der Erzähler in Ihrem Roman

In der Literatur zum kreativen Schreiben geht es, wenn überhaupt, meist nur um die üblichen Erzählperspektiven und welche davon die Schreibenden für ihre Romane verwenden sollten. Damit scheint das Thema abgehakt. Dabei bleibt die zentrale Figur, das eigentliche Machtmittel für den Autor meist unerwähnt: der Erzählerin oder der Erzähler. Das ist mehr als schade, das ist eine vertane Chance und eine sträfliche Vernachlässigung, die mit suboptimalen Texten und erfolglosen Büchern nicht unter vier vollen Schubladen bestraft wird.

Eine wichtige Unterscheidung zu Beginn: Der Erzähler ist nie mit dem Autor identisch. Dafür können Sie als Autorin oder Autor Ihren Erzähler als ein weiteres Instrument in Ihrem Schreibhandwerksorchester benutzen. Ein Instrument, das mindestens so vielseitig ist wie ein Konzertflügel und lauter poltern kann als ein ganzer Satz Kesselpauken.
Außer für die sprachlich komplett unsensiblen Leser ist die Erzählstimme auf den ersten Seiten eines Buchs wichtiger als ein inhaltlich packender Anfang. Es ist die Stimme des Erzählers, die den Leser ins Buch zieht. Zahllose Bestseller, die ohne jedes Spektakel loslegen, zeugen davon.

Nehmen Sie Robert Seethalers Spiegel-Bestsellerlisten-Topper »Das Feld« (Hanser 2018). Der beginnt so:

Der Mann blickte über die Grabsteine, die wie hingestreut vor ihm auf der Wiese lagen. Das Gras stand hoch und Insekten schwirrten in der Luft. Auf der bröckeligen, von Holunderbüschen überwucherten Friedhofsmauer saß eine Amsel und sang. Er konnte sie nicht sehen. Seit einer Weile schon hatte er es mit den Augen, und obwohl es mit jedem Jahr schlimmer wurde, weigerte er sich, eine Brille zu tragen.

Wie heißt es so schön in der Musik? It’s the singer, not the song. Auch wenn es viele Gegenbeispiele gibt, ist die Wahrheit darin nicht von der Hand zu weisen. Natürlich ist der Song wichtig und ebenso wichtig ist der Inhalt des Romans. Doch ein begnadeter Sänger, ein herausragender Erzähler können aus ihren Werken so viel mehr machen.
Vielleicht liegt darin sogar ein Teil des Geheimnisses von Bucherfolgen und Buchmisserfolgen desselben Autors. Vielleicht war einfach der Erzähler des erfolglosen Buchs der Falsche oder nicht gut genug.
Sehen Sie sich als den Komponisten Ihres Romans und Ihren Erzähler als den Interpreten. Ob Sie »Skyfall« von Adele intonieren, von Kylie Minogue piepsen oder von Bon Scott schreien lassen, macht einen Unterschied. Wen Sie Ihren Roman auf welche Weise erzählen lassen, entscheidet über sein Wohl oder Wehe.

Doch der Erzähler verfügt eben nicht nur über eine Stimme. Sondern auch über eine Haltung, über einen Ton, über ein Sprechtempo, einen Rhythmus, ein bestimmtes Vokabular, er kann mehr oder weniger zuverlässig, mehr oder weniger objektiv, mehr oder weniger eigen sein. Und natürlich verfügt er oder sie auch über einen großen Werkzeugkasten voller Tricks und Kniffe.

Tricks und Kniffe des Erzählers in Ihrem Roman

In Andreas Steinhöfels »Der mechanische Prinz« (Carlsen 2003) wirbelt der Erzähler nur so mit allen erdenklichen Werkzeugen: Er greift voraus; er sagt, er erzähle eine wahre Geschichte, womit er der Geschichte mehr Glaubwürdigkeit verleiht – innerhalb der Fiktion; der Erzähler spricht sich selbst frei, indem er sagt, er habe die Geschichte nur gehört, wodurch er sich der Verantwortung entzieht und sich zugleich die Erlaubnis gibt, von der angeblichen Wahrheit abzuweichen. Und das ist nur ein Auszug aus einer Reihe weiterer erzählerischer Mittel.

Ungewöhnlich auch, was J. Robert Lennon in »Broken River« (Serpent’s Tail 2017) tut. Darin erschafft der Erzähler einen Beobachter (»Observer« im Original), der zunächst substanzlos ist, aber im Lauf des Romans eine eigene Persönlichkeit entwickelt.
Wozu er das tut, hat sich mir nicht erschlossen. Der Griff in die Trickkiste geschieht manchmal einfach auch nur deshalb, weil der Autor es für eine gute Idee hielt.

In Dan Simmons’ »Bitterkalt« (Festa 2013) hingegen finden wir eine sinnvollere Aufgabe des Erzählers. In dem Thriller besitzt der obdachlose Freund des Protagonisten einen Laptop. Das allein ist schon ziemlich unwahrscheinlich, etwa wegen der Finanzierung und der sicheren Unterbringung. Und dann ist da das Aufladen … Der personale Erzähler und POV-Charakter sieht im Lager des Obdachlosen ein Verlängerungskabel, das irgendwo hinläuft, er hat keine Ahnung, wohin. Aber indem er sich diese Fragen stellt, nimmt er sie dem Leser vorweg – und macht dadurch die unglaubliche Sache glaubhafter.

An diesem Beispiel sehen Sie, dass der Erzähler die Macht, eine noch so unglaubhafte Situation, ein noch so unwahrscheinliches Ereignis glaubhaft zu machen. Darüber, wie vertrauenswürdig er ist. Darüber, dass er sich wundert und sich dieselben Fragen stellt wie der Leser.
Ein starker Erzähler nämlich erhält auch Kredit vom Leser – Kredit, den der Autor oder der Protagonist womöglich nicht haben. Sprich: Bei einem Erzähler, dem der Leser vertraut oder dem er gerne zuhört, ist er zu mehr Eingeständnissen bereit:
• Er bleibt auch in Phasen im Buch und in der Geschichte, die ihn weniger packen. Weil er überzeugt ist, der Erzähler liefere dann doch irgendwann noch.
• Er nimmt, wie oben gesehen, dem Erzähler auch Unglaubhafteres eher ab. Das können Sie auch an sich selbst beobachten. Wir alle sind eher geneigt, Menschen zu glauben, denen wir vertrauen und die wir mögen.
• Er baut eher eine emotionale Beziehung zum Erzähler auf, egal ob dieser im Roman mitspielt oder nicht. Und durch diese Beziehung sind die Chancen höher, dass ihm das Buch gefällt, dass er es weiterempfiehlt und dass er ein anderes Buch desselben Autors kaufen wird.

Aus dem Geschilderten ersehen Sie die vielleicht wichtigste Aufgabe des Erzählers: Er sollte ein Vertrauensverhältnis zum Leser aufbauen. (Oder, wenn es ein unzuverlässiger Erzähler ist, ein Misstrauensverhältnis.) Nur wenn das Vertrauen da ist, begibt sich der Leser in die Geschichte und unterschreibt einen der vielen Verträge zwischen ihm und dem Autor, hier den Vertrag, so zu tun, als wäre die Geschichte mehr als erfunden, mehr als ein Haufen Zeichen auf Papier oder Bildschirm. Er legt seinen Unglauben ab (»suspension of disbelief«). Etwas, was jeder Leser zu Beginn einer fiktionalen Geschichte tun sollte, um sie zu genießen. Und was er oder sie bereitwillig tut, es sei denn, Sie als Autorin oder Autor verhindern es.

Eine der besten Möglichkeiten, dieses Vertrauen herzustellen, ist die Erzählstimme. Eine andere sind spezifische Details. Wenn Sie gleich zu Beginn ein besonderes und geeignetes Detail in Ihren Text weben, kann das allein schon für das notwendige Vertrauen sorgen.
Das hat für mich der Erzähler eines Romans geschafft, an den ich mich nicht mehr erinnern kann. Das Detail jedoch ist mir im Gedächtnis geblieben und hat mir den Weg in den Roman erleichtert. Darin beschreibt der Erzähler in einem Auto den abgenutzten Jacken-Aufhänger am Handgriff über der Tür und schließt aus der starken Abnutzung darauf, dass der Wagen als Mietwagen oder Geschäftswagen gedient haben musste, eben ein Fahrzeug, in dem täglich Anzugjacken aufgehängt wurden.

Der Erzähler ist das mächtigste Instrument in Ihrem Erzählorchester. Nutzen Sie es und schöpfen Sie seine Möglichkeiten aus. Ihre Leser werden es Ihnen danken.


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