»Ich sehe was, was du nicht siehst«: Multiperspektivisches Erzählen

Sind Sie im Zweifel, ob Sie Ihren Roman aus einer oder aus mehreren Perspektiven schreiben und erzählen sollen, starten Sie mit dieser Faustregel: Schreiben Sie Ihren Roman am besten aus einer einzigen Erzählperspektive. Addieren Sie nur dann weitere hinzu, wenn Sie dafür einen guten, in der Story liegenden Grund haben.
Wenn Sie Ihren Roman dann statt aus einer Perspektive aus mehreren erzählen, betreten Sie das Reich des multiperspektivischen Erzählens. Im Roman der Gegenwart gehört diese Erzähltechnik – neben dem Ich-Erzähler und dem drittpersonalen Erzähler – zu den häufigsten. Sprich: Die Leser sind daran gewöhnt und akzeptieren diese Ansammlung mehrerer POVs ohne Probleme.

Multiperspektivisches Erzählen meint in den meisten Fällen das Erzählen aus mehreren personalen Point-of-views, das heißt: Alle Ihre Erzählstränge stellen Erzähler in den Mittelpunkt, die ein Teil Ihres Figurenensembles sind. Eben darum sollte die Ausweitung der Erzählperspektiven auf mehrere Romanfiguren in der Story, dem Thema und den Charakteren begründet liegen.

Und, nein, Sie sind nicht George R. R. Martin und Ihr Roman ist nicht »Das Lied von Eis und Feuer« (alias »Game of Thrones«), Zur Übersicht über alle POVs in „Song of Ice and Fire“.

Soiaf von GRRM
Abb.: Buch-Box

Die Kombination von personaler und auktorialer Perspektive ist theoretisch zwar möglich, ergibt praktisch jedoch in den wenigsten Fällen Sinn (wie etwa in Heather Gudenkaufs Thriller »Das Flüstern der Stille«). Denn wenn Sie schon einen allwissenden Erzähler haben, warum sollten Sie ihm dann noch einen begrenzten personalen Erzähler zur Seite stellen, die Allwissenheit der Erzählsituation also wieder limitieren? Entsprechendes gilt für die Kombination mehrerer auktorialer Erzähler.


Abb. Kapitel pro POV-Charakter

Gute Gründe, Ihren Roman multiperspektivisch zu erzählen

• Durch den zusätzlichen Erzähler oder Erzählstrang wird die Spannung erhöht (etwa die Suspense, wenn der Leser von den Plänen des Schurken erfährt, die der Protagonist und personale Erzähler nicht kennt).

• Im Roman steht nicht ein einzelner Charakter im Zentrum, sondern ein Problem (eine Katastrophe, eine Bombendrohung, Angriff der Killertomaten, u. ä.), ein Erzählgegenstand (die Epoche der Flugpioniere, die Ränke während des ersten punischen Kriegs, u. ä.), ein Thema (Abtreibungen in einer streng konservativen christlichen Gemeinschaft, der Kult um die Schönheit, u. ä.) oder eine Gruppe von Charakteren (die Abiklasse von 1999, die Töchter des Mafiaclans, u. ä.).

• Sie wollen das Problem/den Erzählgegenstand/das Thema oder die Gruppe aus mehreren Perspektiven betrachten und beleuchten, um dem Leser die Komplexität oder auch Realität besser zu vermitteln.
Beispiel: Frank Schätzing, »Der Schwarm«. Darin geht es um ein komplexes Problem, das die ganze Menschheit bedroht. Eine bisher unbekannte Intelligenz aus den Meerestiefen will die Menschen von den Meeren vertreiben oder ganz auslöschen. Zur Erkennung und zur Lösung des Problems werden viele Figuren aus den unterschiedlichsten Fachgebieten benötigt. Hier nur einen einzigen personalen Erzähler zu Wort kommen zu lassen, hätte den Leser notwendigerweise über einen Großteil der Zusammenhänge im Dunkeln lassen müssen.
(Im Wikipedia-Eintrag zum Roman sehen Sie schön, wie die einzelnen Figuren vor allem über ihre sehr unterschiedlichen und zusammen sehr vielfältigen Aufgaben beschrieben werden.)

GRRM
Abb. George R. R. Martin

• Sie wollen eine Chronologie vermitteln, die über die Lebensspanne eines Charakters hinausgeht, oder ein Panorama zeigen, das über die Auffassungsgabe eines einzigen Charakters hinausgeht.

• Sie wollen Ereignisse oder Eindrücke schildern, die dem Protagonisten oder einem einzelnen personalen Erzähler nicht zur Verfügung stehen.
Das kann insbesondere dann notwendig sein, wenn ein Charakter mittendrin stirbt (denken Sie an Ned Stark aus »Game of Thrones«) oder aus anderen Gründen aus der Handlung aussteigt.
Als Negativbeispiel kann hier der dritte Teil der »Die Tribute von Panem«-Trilogie herhalten. »Flammender Zorn« wird oft dafür kritisiert, dass die Ich-Erzählerin und einzige Protagonistin Katniss wenig Storyrelevantes unternimmt, während die wichtigen Ereignisse abseits von ihr stattfinden – und damit abseits vom Leser.

• Auch eine komplexe Chronologie oder dramatische, für die Story bedeutsame Ereignisse, die sich zu unterschiedlichen Zeiten ereignet haben, können multiperspektivisches Erzählen sinnvoll machen.
Beispiel: Ein Roman über ein Alien-Artefakt. Ein Erzählstrang spielt im vierten Jahrhundert vor Christus, als eine Sklavin das Artefakt entdeckt. Ein zweiter Erzählstrang zeigt das Artefakt in den Händen eines holländischen Sklavenhändlers aus dem siebzehnten Jahrhundert, ein dritter berichtet darüber, wie ein Schlepper der Gegenwart das Artefakt verliert.

• Wenn Sie Ihren Roman auf einen einzigen Charakter fokussieren, eben den Protagonisten und einzigen POV-Charakter, kann es bei komplexeren Geschichten vorkommen, dass Sie alle Ereignisse und Katastrophen diesem einen Charakter widerfahren lassen. Ebenso enthüllt er oder sie alle wichtigen Geheimnisse, löst alle bedeutsamen Fragen und steht immer genau am richtigen Ort, um etwas zu sehen und zu hören und mitzubekommen. Es gibt dafür sogar ein Wort: Ja, Zufall. Ich meinte Auserwählten-Syndrom. Das prominenteste Beispiel dürfte Harry Potter sein.
Bringen Sie zusätzliche POV-Charaktere in die Handlung ein, kann auch mal ein anderer ein Problem lösen und dem Leser live darüber berichten, kann auch mal eine andere an Ort und Stelle sein, um eine Schießerei direkt mitzuerleben und in ihren Worten zu schildern, können auch mal andere etwas Wichtiges erfahren und beschließen, es vorerst geheimzuhalten. Was den Roman offener, welthaltiger, interessanter und vor allem auf Dauer auch glaubhafter macht.
Das hat sogar auf den entlasteten zentralen Protagonisten positive Auswirkungen: Er oder sie wirkt überzeugender, menschlicher, sogar sympathischer.
Das Syndrom tritt dann eher nicht auf, wenn es eben der zentrale und einzige POV-Charakter ist, der den Roman erst – durch seine Motive und Ziele, seine Aktionen und Reaktionen – macht. Dann nämlich passieren ihm keine Zufälle, sondern er oder sie initiiert die Dinge. Was, nebenbei, einer von vielen Gründen ist, die für einen aktiven Protagonisten sprechen.

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