Was haben der Clint-Eastwood-Film »Perfect World« (1993) und der Roman »Die himmlische Tafel« von Donald Ray Pollock gemein? Sie bereiten eine überraschende Wendung mit demselben raffinierten Trick vor.

Hinweise zu streuen gehört zu den essenziellen Vorbereitungen einer überraschenden Wendung (Twist). Wie Sie das tun, bleibt Ihrer Kreativität überlassen. (Oder Sie lassen sich von meinem Ratgeber »Überraschende Wendungen« inspirieren. Darin finden Sie mehr als zwanzig Arten von Hinweisen und wie man sie erfolgreich verbirgt.) Oft jedoch gibt schon die Wendung mehr oder weniger genau vor, wie die Hinweise aussehen sollten.

Clint Eastwood. Foto von Raffi Asdourian (CC 2.0 by)

In »Perfect World« entkommen die beiden Kriminellen Butch Haynes (der Protagonist, gespielt von Kevin Costner) und Terry Pugh aus dem Gefängnis in Huntsville. Bei ihrer Flucht durch Texas nehmen sie den achtjährigen Phillip als Geisel. Als sich Terry an dem Jungen vergehen will, erschießt ihn Haynes und setzt seine Flucht mit Phillip allein fort.
»Die himmlische Tafel« spielt in Georgia des Jahres 1917. Der Farmer Pearl Jewett will sich durch seine Armut auf Erden einen Platz an der himmlischen Tafel verdienen – und seine drei Söhne darben mit ihm. Nachdem Pearl von den Entbehrungen ausgezehrt stirbt, müssen sich die jungen Männer allein durchs Leben schlagen. Als Erstes wollen sie von ihrem Arbeitgeber, dem fiesen Thaddeus Tardweller, drei Pferde stehlen. Doch der Mann erwischt sie – und sie töten ihn.

Die Wendung ist in beiden Fällen ein Mord. Und genau das ist der Knackpunkt, den der Autor lösen muss: Wie schafft er es, seinen Protagonisten zum Mörder werden zu lassen, ohne dass der Leser die emotionale Bindung zu dem Charakter verliert und, im schlimmsten Fall, den Roman weglegt? Insbesondere wenn der Protagonist als Identifikationsfigur fungiert, stehen Sie vor einem schwierigen Problem.
Die beiden angesprochenen Werke tun das auf die gleiche Weise. Hat man den Trick erst einmal durchschaut, dient er zugleich als Hinweis auf die Wendung, also hier auf den Mord.

In »Perfect World« geht Butch in einen Laden, um Lebensmittel zu besorgen. Den Jungen lässt er mit Terry im Auto zurück. Terry hat sich von Anfang an als fieser Drecksack gezeigt. Als die beiden Flüchtigen ihr Auto wechseln wollten, war Terry in ein Haus eingebrochen und wollte eine junge Mutter vergewaltigen – und das ist nur eins der Drecksackbeispiele. Burch konnte es gerade noch verhindern. Jetzt, im Auto mit dem Sohn der Frau, fängt Terry an, den Jungen zu befummeln. Als versuchter Vergewaltiger und Kinderschänder dürfte er sich bei den meisten Zuschauern das Recht auf Leben verwirkt haben. Und genau das ist der Trick. Der Autor macht den zu Ermordenden so unerträglich widerlich, dass der Mord an ihm – Butch erschießt ihn kurz darauf in einem Maisfeld – gerechtfertigt erscheint und sich nicht negativ auf die Einstellung des Zuschauers zum Protagonisten und Mörder auswirkt. Der Leser bleibt Butch gewogen, selbst wenn er seine Tat zu krass finden sollte, so kann er sie doch nachvollziehen und Butch den Mord vergeben.
In »Die himmlische Tafel« geht der auktoriale Erzähler kurz vor dem Mord in den fiesen Tardweller hinein: Dieser denkt gerade mit guten Gefühlen daran, wie er sich im Lauf der Jahre an einer Reihe von Frauen vergangen hat und, um noch einen draufzusetzen, erinnert er sich daran, wie er eine Gruppe von Schwarzen einschließlich der Kinder dafür hinrichtete, dass einer von ihnen etwas von ihm stehlen wollte. Auch dieser Mann ist beim Leser so unten durch, wie man nur unten durch sein kann. So jemand ist Abschaum. Und selbst wenn sich der Leser im realen Leben gegen die Todesstrafe ausspricht, so hat er im Roman weniger Bedenken, diesem Widerling den Tod zu wünschen. Einem Wunsch, dem die Protagonisten, die Gebrüder Jewett, nur zu gerne nachkommen.
In beiden Fällen bleibt der Leser den Charakteren auch nach dem Mord gewogen – und klebt weiter, vielleicht noch ein Stück fester, an den Buchseiten oder der Kinoleinwand.

Achtung: Hier geht es nicht um Notwehr oder Nothilfe. Beides ist in sich selbst gerechtfertigt. Doch es gibt Abstufungen, auch in unseren Beispielen. Die Jewetts töten Tardweller, weil er sie beim Pferdediebstahl erwischt. Würden sie nicht mit der Machete zuschlagen und dann auch noch schießen, würden sie selbst – wahrscheinlich – dran glauben müssen.
Eindeutiger ist es in »Perfect World«. Der bewaffnete Butch folgt Terry ins Maisfeld, wo Terry hinter dem Jungen her ist. Doch Terry ist unbewaffnet, er stellt keine unmittelbare Gefahr für Butch dar und, nach seinem Eintreffen, auch nicht (mehr) für den Jungen. Butch könnte sich den Jungen schnappen und Terry im Feld zurücklassen. Doch er entscheidet sich dafür, seinen Kumpan zu töten.

Achten Sie künftig beim Lesen oder Filmeschauen darauf: Sobald ein sowieso schon negativer Charakter etwas himmelschreiend Böses getan hat, bleibt ihm nicht mehr lange zu leben, ein paar Filmminuten vielleicht noch, wie in Terrys Fall, oder eine einzige Seite, wie bei Tardweller.
Für die Arbeit an Ihrem Roman heißt das: Falls Sie eine im Wortsinne mordsmäßige Wendung planen, sollten Sie sich fragen, ob der Mörder eine positiv besetzte Figur ist und ob er es bleiben soll. Wenn ja, dann sollten Sie das Mordopfer rechtzeitig so darstellen, dass es (aus Sicht der Leser) den Tod verdient hat.
Doch in dem Trick steckt noch mehr. Sie können nämlich auch gegen ihn anschreiben. Manchmal ist es für den Roman besser, weil dramatischer, wenn der Oberfiesling noch weiterleben darf. Dann hat der Leser jemanden, den er mit Inbrunst verabscheuen kann. Und Sie können damit auch die Erwartungen der Leser, die den Trick kennen, unterlaufen. Indem der Fiesling den Mordanschlag bloß überlebt. Oder selbst (abermals) zum Mörder wird. Das wäre dann eine noch überraschendere Wendung …


Wie Sie Hinweise schreiben und verbergen, lesen Sie in „Überraschende Wendungen — So schreiben Sie atemberaubende Twists“

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