So schreiben Sie hyperrealistische Romane und entgehen der Wirklichkeitsillusion

Den ersten Teil des Artikels lesen Sie hier: https://schriftzeit.de/archives/2758


„Beim Lesen des Artikels machte es bei mir ‚klickklickklick‘.“ (Windsbraut)


Nichtstun ist realistisch

Betrachten Sie sich mal diesen oder den letzten Tag. Was haben Sie tatsächlich aktiv und selbst initiiert? Welche Weichen haben Sie gestellt, welche Maßnahmen in die Wege geleitet? Wo haben Sie den Grundstein für Ihre Zukunft und für Veränderungen gelegt?
Wie oft haben Sie hingegen getan, was man Ihnen sagte (»Frau Schmidt, kommen Sie doch nachher bitte kurz in den Besprechungsraum.« / »Wenn du nachher gehst, wirfst du dann noch die Briefe ein?«)? Wie oft haben Sie sich berieseln lassen, vor dem Fernseher etwa, wie viel Zeit haben Sie mit Tätigkeiten verbracht, die ebenfalls keine echte Pro-Aktivität erfordern, etwa Produktpreise in einer Excel-Tabelle korrigieren, mit den Kollegen zum Mittagessen gehen, in der Straßenbahn lesen?
Rechnen Sie das auf Ihr Leben hoch …

Die mit Abstand meiste Zeit unseres Lebens reagieren wir. Realistische Romanfiguren tun dasselbe, oder?
Wenn Sie das glauben, haben Sie ein Problem. Womöglichst das massivste, das Sie als Autor haben können. Leider ist das Problem gerade unter weniger erfahrenen Autoren sehr verbreitet. Sie lassen ihre Charaktere reagieren, sie lassen sie seitenlang nachdenken, sie lassen sie Pseudohandlungen ausführen wie nicken oder am Kinn kratzen – alles sehr realistisch.
Und alles darauf ausgerichtet, Ihren Roman zu zerstören.

Leser erwarten Romanfiguren, insbesondere Protagonist und Antagonist, dass sie aktiv auf ein Ziel hinarbeiten. Erst dann können Konflikte entstehen. Wenn Held und Bösewicht beschließen, beide in ihren jeweiligen (!) Betten zu bleiben, gibt es keinen Konflikt und der Roman kommt nicht voran.
Wenn der Leser einen passiven Protagonisten erlebt, denkt er folgendes: »Der Kerl tut nichts. Also nimmt er sein Ziel nicht ernst oder er hat gar keins. Er scheint sich folglich nicht für sein eigenes Leben zu interessieren. Wieso sollte ich das tun und den Roman weiterlesen?«
Zu passive Charaktere sind einer der Hauptgründe, warum Agenten und Verlage einen Roman ablehnen.
Freilich darf ein Protagonist zunächst auch mal reagieren, etwa dann, wenn er als Ermittler ein Verbrechen aufklären soll. Aber selbst dieses Reagieren auf Taten des Gegenspielers sollten Sie aktiv gestalten. Überspitzt gesagt: Die Frau Kommissarin wartet nicht, bis der Mörder wieder zuschlägt oder bis ihre Leute ihr Informationen beschaffen. Sie macht sich selbst aktiv auf die Suche nach Informationen und nach dem Täter.

Passive Charaktere wirken, weil sie an ihrem Leben uninteressiert wirken und nicht in die Gänge kommen, auf den Leser schnell unsympathisch. Womit wir bei der nächsten Situation wären, in der Leben und Roman sich unterscheiden.


Menschen sind grundsätzlich erst einmal sympathisch

Stimmt doch, oder? Die meisten Leute, denen man so bewegt, sind eigentlich ganz OK. Einen netten Zug hat so ziemlich jeder. Wenn Sie also lebensechte Menschen in Ihrem Roman mitspielen lassen, wird der Leser diese automatisch sympathisch finden.
Falsch.
Sehen Sie sich nur mal einen beliebigen Roman des Genres »Seriöse Literatur« an. Die meisten Menschen dort sollen lebensecht wirken, aber sie wirken vor allem – unsympathisch.
Das liegt daran, dass wir als Leser nur einen Bruchteil der Informationen über einen Charakter erhalten, die wir über einen Menschen erhalten, den wir im Leben kennenlernen. Im Leben bekommen wir in wenigen Sekunden umfassende Eindrücke über Aussehen, Kleidung, Verhalten, Geruch, Mimik und Gestik, Bewegungen, Ausstrahlung und vieles mehr. Und das alles gleichzeitig!
Im Roman hingegen erhalten wir als Leser die Informationen linear, nach und nach. Im Roman setzt sich also unser erster Eindruck tatsächlich nur aus einem einzigen Eindruck zusammen, während der »erste Eindruck« im Leben tatsächlich einer aus Hunderten Details ist, von denen wir die meisten unbewusst und unterbewusst aufnehmen.
Das bedeutet, dass die vergleichsweise wenigen Dinge, die wir über einen Romancharakter erfahren, ungleich größeres Gewicht erhalten (und dadurch die Auswahl so entscheidend machen und eben den Könner vom Möchtegern unterscheiden). Da kann schon ein einziger »falscher« Gedanke der Protagonistin uns diese Frau unsympathisch machen, sagen wir, wenn sie einen Hund sieht und denkt, sie mag keine Hunde. Vergleichen wir das mit einer Bekanntschaft aus dem Leben, kann diese Aussage der realen Frau durch viele andere Eindrücke leicht mehr als wettgemacht werden, etwa durch ein Lächeln, durch die Art, wie die Frau die Aussage trifft, und durch viele unterbewusste Dinge, vielleicht eine Handbewegung, die uns an einen geliebten Menschen erinnert oder der Hauch eines Parfums, das wir mögen.

Gerade Literaten machen den Fehler, dass sie ihre Charaktere viele verquere Dinge tun, sagen oder denken lassen. Die Folge sind Romanfiguren, die eben nicht als ausgewogen und realistisch beim Leser ankommen, wie das vom Autor intendiert ist, sondern als Unsympathen.
Und: Figuren der »anspruchsvollen Literatur« neigen dazu, viel zu denken und wenig zu tun. Und, so mein Eindruck der deutschen Literatur, wenn sie etwas tun, sich vor allem mit banalen Dingen zu befassen wie etwa drei Seiten lang über die zurückgehende Verbreitung von Brotschneidemaschinen in modernen Haushalten zu sinnieren.
Solche Charaktere werden von Romanlesern als passiv empfunden und, wie oben gezeigt, vom Leser tendenziell als eher unsympathisch eingestuft.

Das heißt für Sie: Wenn Sie einen realistischen und ausgewogen wirkenden Protagonisten erschaffen wollen, sollten Sie ihn zunächst aktiv und sympathisch machen. (Die hohe Schule, einen unsympathischen, dafür aber faszinierenden Protagonisten zu schaffen, lassen wir hier einmal außer Acht.) Das gelingt am effizientesten und wirkungsvollsten, indem Sie den Charakter nicht nur als sympathisch beschreiben, sondern ihn etwas tun lassen, was ihn sympathisch macht. Beispiel: Sie zeigen Ihre Protagonistin dabei, wie sie eine Katze vor dem Ertrinken rettet und das arme, wasserscheue Tierchen anschließend liebevoll trocken föhnt. (Nicht, dass die Katze das Fönen besonders zu schätzen wüsste …)
Hier ist, gerade zu Anfang Ihres Romans, Subtilität fehl am Platz (was auch für das Fönen von Katzen gilt). Da Sie linear eins nach dem anderen erzählen müssen, haben Sie nur diesen einen ersten Eindruck. Und der sollte die Richtung vorgeben, in der Sie den Charakter haben möchten.
Der Leser baut sich von diesem ersten Eindruck ausgehend den Charakter im Folgenden selbst zusammen. Je später im Roman eine Eigenschaft einer Figur offenbart wird, desto weniger Einfluss hat sie auf die Wahrnehmung dieser Figur durch den Leser.
Wenn Sie im Verlauf der Geschichte diesen Ersteindruck relativieren, können Sie dennoch ausgewogene Charaktere erschaffen, die durchaus ihre dunklen Seiten haben.


Das ist aber genau so passiert!

Die womöglich schlimmste Wirklichkeitsillusion, der Sie als Autor beim Schreiben erliegen können, ist die: Wenn Sie die Realität nur eins zu eins übernehmen, kommt das beim Leser als besonders realistisch an.

Es stimmt, das Leben ist als Ideenlieferant unerschöpflich. Nur zu, bedienen Sie sich reichlich. Wer aber Ideen mit der Geschichte oder sogar mit dem Plot gleichsetzt, hat die Sache mit dem Romane schreiben nicht verstanden. Die Ideen sind die unverzichtbaren Impulse, die das Schreiben anstoßen. Das ist eine Menge – aber es ist eben auch alles. Wie Sie diese Ideen zu einer Geschichte zusammenfügen und ordnen, die die Leser fesselt und zu Tränen rührt, verrät Ihnen das Leben hingegen nicht. Im Leben gibt es keine Plotpoints, keine Dramaturgie und keine Eskalation, wenn man sie gerade braucht. Leben ist Chaos – Romane schreiben, ist, aus diesem Chaos eine wohlgeordnete, sinnreiche Geschichte zu basteln.

Mancher Autor fürchtet hier womöglich, dass eben dieses ordnende Eingreifen seinem Roman das Realistische nimmt. Das Gegenteil ist der Fall. Erst durch das geschickte und beherzte Ordnen der Ursuppe durch den Gott Autor kann etwas entstehen, was vom Leser als lebensecht wirkender Ausschnitt der Realität wahrgenommen wird.
Noch nicht überzeugt? Betrachten Sie sich einen weichen Klumpen Lehm. Wenn Sie den von der Ladefläche eines Lkw auf Steinboden klatschen, erhalten Sie einen Klumpen ohne jede erkennbare Form. Der Klumpen mag realistisch sein. Aber was hält der Betrachter wohl für lebensnäher, lebensechter, für lebendiger? Diesen ungeformten Kladderadatsch oder die von den geübten Händen eines Bildhauers geschaffene und im Ofen gebrannte Form eines menschlichen Körpers?

Ein realistisch wirkender Roman ist hyperreal, indem er mehr und mehr Wahres über das Leben sagt als ein beliebig aus dem realen Leben herausgegriffener Ausschnitt. Oder Klumpen.

(Nächste Woche geht es weiter in unserer Miniserie über realistisches Schreiben.)

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2015

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