So schreiben Sie realistische(re) Romane und entgehen der Wirklichkeitsillusion

Bestimmt haben Sie schon einmal ein Theaterstück oder eine Oper im Fernsehen gesehen. Was fällt dabei sofort auf? Richtig, die Schauspieler scheinen ihr Spiel auf eine melodramatische Art zu übertreiben. Nein, sie scheinen es nicht zu tun, sie tun es tatsächlich und mit voller Absicht. Der Hintergrund: Ein Theaterschauspieler muss sicherstellen, dass seine Mimik, seine Gesten und vor allem seine Worte auch noch in der letzten Reihe ihre Wirkung entfalten. Die Fernsehkamera aber holt ihn ganz dicht heran. Und was einem im Theater selbst noch als große Schauspielkunst erschien, kommt einem vor dem Bildschirm vor wie Schmierenkomödie.
Dasselbe in einer abgeschwächten Form erkennen Sie auch in älteren Filmen, wenn dort Schauspieler agieren, die ihre Kunst noch auf den Brettern gelernt haben, die einmal die Welt bedeuteten. Deshalb ist der Wechsel von der Bühne vor die Kamera und umgekehrt weit weniger trivial, als viele im Publikum glauben. Letztlich geht es für den Mimen um nicht weniger, als darum, seine komplette Darstellung zu verändern.

Das Medium allein ist hier nicht die ganze Botschaft, aber es beeinflusst das, was der Zuschauer wahrnimmt, doch auf deutliche, vielfältige Weise. Wie sieht es mit dem Medium »Buch« aus? Wäre nicht zu erwarten, dass das Buch ebenfalls eine andere Ausdrucksweise bevorzugt als Theater oder Film? Zweifellos.

Mir geht es heute um einen noch wichtigeren Unterschied: Wie unterscheiden sich Roman und Leben und was bedeutet das für Ihr Schreiben?

Auslöser für den Artikel war der Roman »The Owl Killers« von Karen Maitland, eine mittelalterliche Schauergeschichte. Eine der Besonderheiten des Buchs ist sein Umgang mit den Erzählperspektiven: Die Geschichte wird ausschließlich aus der Ich-Perspektive erzählt, allerdings gleich von fünf Charakteren. So interessant dieser Kniff ist und so unterhaltsam seine Verwendung von dramatischer Ironie – zwei der Charaktere haben mich nach einer Weile extrem genervt. Einer davon ist Father Ulfrid, der Priester der lokalen Kirche, der andere Charakter ist Beatrice, eine Begine.


Realistische Romane schreiben: Sprunghaftigkeit von Emotionen und anderen Gefühlen

Das Problem mit Father Ulfrid gründet in der extremen Sprunghaftigkeit seiner Gefühle. Innerhalb einer Szene von drei, vier Seiten ist er einmal zutiefst ängstlich und unterwürfig, dann wieder empört und aufbrausend und angeberisch, und das wendet sich jede halbe Seite.
Wahrscheinlich kennen Sie Menschen, die genau so sind. Aber wirkt Father Ulfrid darum realistisch? Interessanterweise nicht. Noch interessanter: Es liegt ausgerechnet an der realistischen Sprunghaftigkeit seiner Emotionen, dass er wie eine Romanfigur wirkt und nicht als lebendiger Mensch aus den Seiten heraustritt.

Die Sprunghaftigkeit von Emotionen wirkt in einem Roman viel stärker als in der Realität. Das liegt daran, dass wir als Leser diese Emotionen wesentlich konzentrierter wahrnehmen. Im Leben erleben wir einen Menschen, mit dem wir uns unterhalten, auf weit vielfältige Weise als einen Charakter in einem Buch. Seine Emotionen sind nur ein kleiner Teil davon neben all seinen Äußerlichkeiten, seinen Bewegungen, seiner Kleidung, dem, was er sagt, und dem, was er meint, unserer Einstellung zu ihm und der gemeinsamen Vergangenheit und vielem mehr. Im genannten Roman aber mimmt der Ausdruck der Emotionen auf einmal deutlich mehr Raum ein. Ein gefühltes Drittel des Textes lässt uns die Emotionen Father Ulfrids spüren, während dieser Anteil in der Realität erheblich geringer wäre.

Überarbeitung: Ein Wechselbad von Emotionen ist genau das, was der Leser will. Aber versuchen Sie nicht, das dadurch erzwingen zu wollen, dass Sie Ihre Charaktere permanent durch ein solches Wechselbad schicken. Vermeiden Sie außer an ausgewählten Stellen extreme Gefühlsschwankungen. Ändern Sie Emotionen durchaus häufiger, aber bleiben Sie subtil. Am besten wirken spürbare, aber leichte Schwankungen mit seltenen und dadurch umso wirksameren Extrempunkten.

Tipp: Versuchen Sie, jeder Szene eine Grundemotion mitzugeben, genauer: Der Charakter, dem sie Szene gehört (meist der Point-of-View-Charakter) bewegt sich durch diese Emotion, beispielsweise von leichter Irritation zu einem Anflug von Sorge bis hin zu ausgewachsener Panik. Denken Sie auch bei den Emotionen an die Dramaturgie, an Eskalation, an Wendepunkte, an einen Höhepunkt.


Realistische Romane schreiben: Wieder und wieder wiederholte Wiederholung von Emotionen

Die Begine Beatrice hat viele Totgeburten hinter sich. Als die dreizehnjährige Agatha in ihre klosterähnliche Hausgemeinschaft aufgenommen wird, findet Beatrice heraus, dass Agatha sich ein Kind hat wegmachen lassen. Für Beatrice ist Agatha fortan eine Kindermörderin – und sonst nichts mehr. Alles, was Agatha tut oder sagt, wird ihr von Beatrice negativ ausgelegt. Und ich meine: alles.
Das fand ich eine Weile durchaus gekonnt gemacht, aber bald will ich der Autorin nur noch zurufen: »Genug, ich hab’s kapiert, Agatha kann es ihr nicht recht machen, aber hau mir das nicht in jedem zweiten Satz um die Ohren!«

Auch hier ist die Sache durchaus realistisch. Denn es ist ja so, dass wir Urteile über andere fällen, wir tun das pausenlos, und unser Verhalten, unser Denken und auch unsere Gefühle werden von diesem Urteil permanent beeinflusst.
Im Roman aber wirkt das nach einer Weile übertrieben. Die Autorin stößt uns wieder und wieder auf denselben Umstand, bis sich Beatrices Erzählperspektive so liest, als ob sie nichts anderes mehr täte, als Agatha zu hassen. Weiterer unangenehmer Effekt: Als Leser werde ich aus der Geschichte gerissen, weil ich das Handeln der Autorin spüre.

Überarbeitung: Auch hier kommen Sie mit Zurückhaltung und Pointiertheit wesentlich weiter. Machen Sie deutlich, wie etwa Beatrice zu Agatha steht, machen Sie es ruhig sehr deutlich und unmissverständlich. Aber dann hacken Sie nicht permanent weiter in dieselbe Kerbe. Vertrauen Sie Ihren Lesern. Lassen Sie sie zwischenzeitlich immer wieder spüren, was Sie vermitteln wollen. Dabei genügt eine kleine, sanfte Erinnerung. Der Leser hat es kapiert. Und Sie konzentrieren sich auf die Geschichte, die Sie erzählen wollen. Wenn dann dieses Vorurteil an einer wichtigen Stelle im Roman zum Tragen kommt, indem etwa die Urteilende wegen ihrer vorgefassten Meinung einen fatalen Fehler begeht, werden Sie den Leser aufs Schärfste daran erinnern – und er wird sich erinnern.


Realistische Romane schreiben: Zu viele Details

Ich bin ein großer Fan von detailreichem Schreiben. Insbesondere das hochspezifische Detail (zum Beispiel statt »Auto« einen »ferrariroten Lancia Delta aus den Achtzigern«) hat es mir angetan. Nicht nur mir. Denn es funktioniert.

Dennoch findet sich in manchen Romanen eine erdrückende Detailfülle bei Beschreibungen. Das können genaue Beschreibungen von Dingen sein, wie etwa die eines Portals, die sich über mehrere Seiten erstreckt (Umberto Eco, »Der Name der Rose«). Oder minutiöse Aufzeichnungen von Abläufen (»Sie hob das rechte Bein, drehte sich auf dem linken um die eigene Achse und trat dem Angreifer mit der ausgestreckten Zehe zwischen die zweite und dritte Rippe von oben. Der Angreifer fiel nach hinten, wischte bei dem Versuch, sich irgendwo zu halten, mit der linken Hand Gläser vom Tisch, und zog mit der rechten gleichzeitig seine Pistole und schnippte mit dem Daumen den Sicherungshebel …«).

Das ist realistisch, oder? In der Realität ist dieses Portal so detailreich, Eco hätte ein ganzes Buch darüber schreiben können statt nur zehn oder zwanzig Seiten. In der Realität sind Bewegungen von Menschen bei einem Kampf so komplex, dass man jeder Kampfsekunde mindestens zwei, drei Sätze widmen müsste, um sie einzufangen.
Die Realität ist: Sie können das Leben nicht einmal ansatzweise erschöpfend beschreiben. Sie schaffen es nicht einmal, auch nur ein Prozent der Wirklichkeit in Ihrem Roman abzubilden. Allein mit dem Verhalten der Blutplättchen im Körper des Angreifers während einer Zehntelsekunde könnten Sie mehrere Bücher füllen. Und wenn Sie dann auf die subatomare Ebene gehen, denn daraus setzt sich ja alles zusammen, nicht wahr, dann … viel Spaß.

Also versuchen Sie es gar nicht erst. Jedes Buch hat einen Mechanismus mit eingebaut, der dafür sorgt, dass die Geschichte den Detailreichtum bekommt, den sie braucht, um zu wirken. Man nennt diesen Mechanismus umgangsprachlich auch »Leser«.

Ihre Aufgabe als Autor ist es, Kondensationskerne in den Kopf Ihrer Leser zu pflanzen, aus denen die Story entsteht. Tatsächlich sollten Sie nicht den Fehler begehen und das, was da vor Ihnen in einem Buch auf Papier steht oder sich aus E-Ink-Tinte auf Ihrem Tolino Shine zusammensetzt, für die Geschichte zu halten. Die Geschichte ist nicht stofflich und flitzt als krude Mischung aus feuernden Synapsen und mehr oder weniger langlebigen chemischen Verbindungen durch Nervensystem und Adern Ihrer Leser.

Überarbeitung: Statt Ihre Bücher mit einem Zuviel an Details vollzustopfen, betrachten Sie diese Details als Früchte einer Brainstorming-Sitzung. Sie sind Ihre Inspiration und das Ausgangsmaterial, aus dem Sie das eine oder auch mal zwei sprechende Details herauspicken.
Fragen Sie sich:
* Welches Detail versinnbildlicht die Situation der Charaktere zu diesem Zeitpunkt der Geschichte?
* Welches Detail bildet einen spannenden Kontrast zu den Gefühlen des Protagonisten?
* Welches Detail gibt das Thema wieder?
* Welches Detail lässt vor dem Leserauge einen Film ablaufen oder berührt ihn am intensivsten?
* Welches Detail passt ganz und gar nicht in diese Szene und ist gerade deshalb so interessant?
Viele Fragen, unendlich viele mögliche Antworten. Was heißt: Es gibt nicht das eine perfekte Detail für jede Szene. Das heißt, das Auswählen der passenden Details gehört zu den Dingen, die einen guten Autor ausmachen und die eben auch seine oder ihre Individualität herausstreichen. Kein Schreibratgeber und auch kein Workshop nimmt Ihnen das ab.

Tipp: Vermeiden Sie die Details, die Ihnen spontan einfallen. Denn das sind die Klischees oder das, was Sie selbst schon in hundert Romanen gelesen und in tausend Filmen gesehen haben. Gehen Sie zwei, drei Schritte weiter. Sie werden sehen, es lohnt sich. Denn das passende Detail ist nicht nur ein Geschenk an Ihre Leser. Es macht zugleich Ihnen die Arbeit leichter, weil es eben auch Sie animiert und inspiriert.

(Aufgrund der Fülle des Themas erscheint nächste Woche eine Fortsetzung dieses Artikels zum Thema „Realistische Romane schreiben“)

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2015

PS: Danke für den Kauf meiner Schreibratgeber, Ihre Weiterempfehlungen und Ihre Unterstützung in vielen tollen Leserzuschriften 🙂


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