Überflüssiges im Roman: Die Gefahren des Überflusses

Einer der Fehler, die Romanautoren gerade bei ihren ersten Romanen begehen – und ein zentraler Grund, warum diese ersten Romane keinen Verlag finden –, scheint auf den ersten Blick gar keiner zu sein.

Genau das ist das Problem.

Das Problem heißt: überflüssige Wörter, Sätze, Absätze, Szenen, Kapitel. Bis hin zum überflüssigen Roman. Aber ganz so weit lassen wir es nicht kommen.

Moment mal. Ein Wort zu viel soll schlecht sein? Oder ein Satz? Aber dieses Wort informiert den Leser, beschreibt einen Charakter deutlicher, der Satz mehr bringt mehr Action … Was soll daran falsch sein?

Fangen wir von vorne an. Viele Autoren sind der Ansicht, Wörter kosten nichts. Gut, sie kosten den Autor je nach Tipp-Tempo vielleicht eine oder zwei Sekunden. Gut, sie kosten beim Druck vielleicht einen hundertstel Cent mehr. Das alles aber sind Peanuts.

Jetzt kommen die echten Probleme – um im Bild zu bleiben: die Kokosnüsse:
Jedes Wort zu viel kostet den Leser Lesezeit. Das ist schlimm.
Jedes Wort zu viel verlangsamt den Text. Das ist schlimmer.
Jedes Wort zu viel nimmt den anderen, den richtigen und wichtigen Wörtern an Aufmerksamkeit, an Wirkung und Kraft. Das ist das Schlimmste.

In der extremsten Ausformung sind das überflüssige Wiederholungen. (Nebenbei: Wir reden hier von Romanen. In Sachtexten wie diesem Ratgebertext, den Sie gerade lesen, können Wiederholungen didaktisch sinnvoll sein. Die Leser Ihres Romans aber wollen Sie weder belehren und ihnen schon gar nicht etwas eintrichtern. So wie ich das hier mühsam versuche ;-))

Überflüssiges im Roman: Unnötige Wiederholungen

Nehmen wir als Beispiel einen Krimi. Die Protagonistin ist mit einem Freund zusammen in ein Hotelzimmer gezogen, nachdem ihr Mann gedroht hat, sie umzubringen.
»Ich dachte, ich wäre … ach, ich weiß nicht. – Warte, dieses Geräusch, hast du das auch gehört? Nein? Sicher?« Sie war nervös. Sie kaute an ihren Fingernägeln, lief unruhig durchs Zimmer und sah alle dreißig Sekunden zum Fenster hinaus auf die Straße.

Der Satz »Sie kaute an ihren Fingernägeln, lief unruhig durchs Zimmer und sah alle dreißig Sekunden zum Fenster hinaus auf die Straße.« sagt drei Mal das Gleiche: Diese Frau ist nervös.
Solche Sätze sind in der Rohfassung absolut in Ordnung. Sie können dort sogar sehr hilfreich sein. Es ist Brainstorming auf der Seite. Bei der Überarbeitung aber sollten Sie sich auf eins der Bilder beschränken. Als Faustregel nehmen Sie das Bild, das
* am ungewöhnlichsten,
* am bildhaftesten,
* am emotional eindringlichsten ist, das
* am besten zu dem Charakter oder
* zum Thema passt, und das Sie
* zuvor noch nicht verwendet haben.

Doch die Wiederholung in unserem Beispiel wäre damit noch nicht ausgemerzt. Denn das, was wir hier etwa mit dem Nägelkauen zeigen (show), haben wir zuvor schon erzählt (tell): Sie war nervös.
In Anpassung der bekannten Empfehlung müsste es hierzu heißen: »Show or tell.« Beides ist fast immer eins zu viel.

Gut. Streichen wir den Satz, der nur erzählt. Leider haben wir noch immer eine Wiederholung in unserem Beispiel. Denn der Satz, den die Frau sagt, zeigt uns ebenfalls, dass sie nervös ist.
Passen wir die Empfehlung auch hier an, lautet sie: »Show or tell – and do it only once«. Auf Deutsch: Ein Mal langt!

Zusammengefasst könnte man unseren Beispieltext also auf die Dialogzeile reduzieren. Der Leser hätte alle Informationen, die er braucht. Und er hätte den Beweis: denn auch Dialog – sprechen – ist handeln, ist zeigen, ist belegen.

Überflüssiges im Roman: Unnötige Charaktere

Problematischer als so offenkundige Wiederholungen, weil schwerer zu erkennen, sind all die Wörter, Sätze und Kapitel, die zwar nichts wiederholen, aber auch nichts Neues bringen – neu auf das Romanziel, aufs Thema bezogen.
Das könnte eine überflüssige Figur sein, etwa eine zweite Freundin, die hier mit unserer Heldin auf dem Hotelzimmer ausharrt, und die dieselbe Funktion im Roman hat wie die erste Freundin. Bei Nebenfiguren ist das weniger problematisch.
Heftiger wird es, wenn Sie etwa mehrere Charaktere haben, aus deren Perspektive Sie erzählen, oder sogar mehrere Protagonisten. Manche Geschichten verlangen das. Doch um so etwas überzeugend und wirkungsvoll durchzuziehen, braucht es Raum – sprich: deutlich mehr Seiten – und es braucht erzählerisches Können.
Denn jeder Protagonist verlangt Emotionen, die die Leser in ihn oder sie investieren. Und die Gefühle der Leser sind nicht beliebig erweiterbar. Mancher kann sich tiefer auf zwei oder drei Hauptfiguren einlassen. Doch werden es mehr, nehmen die Emotionen automatisch ab. Die vierte Hauptfigur nimmt den drei anderen von diesen Leseremotionen weg. Die fünfte den vier anderen. Bis der Leser seine Gefühle so dünn auftragen muss, das für keinen mehr ausreichend übrig sind – nicht genug jedenfalls, um den Roman mit Genuss weiterzulesen.

Wie immer Sie persönlich zu Monogamie stehen mögen – im Verhältnis Leser Protagonist macht sie ziemlich viel Sinn. Denn ich behaupte, dass selbst in Liebesromanen mit einem Protagonisten und einer Protagonistin – den Liebenden – jeder Leser in einen der Charaktere deutlich mehr Gefühle investiert als in den anderen. Sprich: Auch Dreiecksgeschichten mit Romancharakteren sind für den Leser selten so intensiv wie echte monogame Beziehungen zu nur einem Protagonisten.

Überflüssiges im Roman: Unnötige Wörter

Wie sieht es nun mit einzelnen Wörtern aus? Nehmen die anderen Wörtern etwas weg?
Ja, das tun sie. Sofern die Geschichte oder die Sprache sie nicht braucht.

Letzteres heißt, dass manche Wörter einfach nur deshalb in einem Satz stehen – und das zu Recht – weil sie dem Satz erst den Klang geben, den er haben soll. So können Füllwörter eine Funktion bekommen, indem sie eine Aufgabe jenseits des Inhalts erfüllen.

Und was braucht die Geschichte? Nehmen wir den Satz: »Der kleine weiße Lieferwagen bog mit quietschenden Reifen um die Ecke, die Kugeln der Polizisten gingen ins Leere.«

Das Attribut »weiß« spielt später noch eine Rolle, als die Fahndung nach einem »weißen Lieferwagen unbekannter Marke« ausgerufen wird. Das Attribut »klein« spielt im Folgenden keine Rolle mehr. Es kann wegfallen.
Ich behaupte: Der Leser hat ein deutlicheres Bild vor Augen, wenn es in dem Satz nur hieße »der weiße Lieferwagen«. Sobald mehrere Attribute auftauchen, haben wir ein Machtgerangel um die Aufmerksamkeit und um das Gedächtnis des Lesers. Je mehr Attribute auftauchen, desto weniger bleibt im Gedächtnis haften. Schlimmer: Der eine Leser erinnert sich an das eine, der andere an ein anderes Attribut.
Sprich: Sie verlieren die Kontrolle über das, was Ihre Leser gesehen haben. Womit Sie es schwerer haben, später im Text an diesen Punkt, hier an den Lieferwagen, anzuknüpfen.
Dann kann es zu der Situation kommen, dass im Text die Polizei nach einem weißen Lieferwagen fahndet, manche Leser aber nur noch wissen, dass der Wagen klein war und sich fragen, welcher Wagen hier gemeint ist.

Ja, das ist Pfennigfuchserei. Aber wenn Sie bedenken, dass in vielen Romanen solche überflüssigen Wörter tausendfach vorkommen, ergeben sich aus den gefuchsten Pfennigen oder Cents schnell hohe Eurobeträge. Und jeder einzelne Cent ist ein winziger Stolperstein, der den Weg durch Ihren Roman unbequemer macht und dazu führen kann, den Leser aus der Geschichte zu reißen. Mit jedem Mal gehen Sie diese Gefahr ein, hundert Mal, tausend Mal, zehntausend Mal in einem einzigen Roman. Hört sich das immer noch nach Pfennigfuchserei an?

Überflüssiges bricht das Versprechen an die Leser

Diese hier angedeuteten Verwirrungen aufgrund überflüssiger Wörter gehen noch weiter. Ein Beispiel: Der Autor beschreibt eine Figur, die nur ganz kurz in einer Szene auftaucht und der Heldin die Tür aufhält, in großer Ausführlichkeit. Der geübte Leser weiß: »Ah, diese ausführliche Beschreibung bedeutet, der Türaufhalter wird später noch eine größere Rolle spielen.«
Nur leider tut er das nicht. Der Autor hat die Aufmerksamkeit des Lesers missbraucht, er hat sein Interesse missbraucht – weil er zu faul oder zu unwissend war, diese unnötige Beschreibung aus der Rohfassung zu streichen.
Tut der Autor das wiederholt, wird der Leser sauer. Er fühlt sich genasführt und das zu Recht. Denn jedes Wort in einem Roman ist auch ein Versprechen: »Dieses Wort steht hier aus einem ganz bestimmten Grund. Und der Autor verspricht mir Leser damit, dass dieses Wort eine Bedeutung hat oder bekommt.«

Die Beschreibung des Türaufhalters ist also nicht nur überflüssig – was schon schlimm genug wäre, aber verzeihlich. Sie hat für den Autor sogar negative Folgen! Eben weil sie für den Leser negativ ist.
Obiger Gedankengang des Lesers lautet vollständig: »Ah, diese ausführliche Beschreibung bedeutet, der Türaufhalter wird später noch eine größere Rolle spielen. Denn sonst würde sie der Autor nicht hinschreiben.«
Daran erkennen Sie die andere Seite des Autorenversprechens: Das Vertrauen des Lesers, dass der Autor seine Versprechen einhält.

Überflüssiges im Roman: Wichtiges versus Unwichtiges

Eng mit dieser Verwendung überflüssiger Wörter verwandt ist das Thema »wichtig versus unwichtig«. In vielen Romanen gerade von Anfängern stehen wichtige und unwichtige Dinge gleichberechtigt nebeneinander, das heißt, sie erhalten dieselbe Aufmerksamkeit des Autors, etwa eine ähnliche Zahl an Wörtern, eine ähnliche Tiefe in der Bearbeitung, eine ähnliche Üppigkeit bei Beschreibungen.
Damit meine ich nicht die Roten Heringe, also die zielgerichtete Verschleierung und Täuschung der Leser zu dem höheren Zweck, den Leser noch besser zu unterhalten.
Ich meine die unbedachte und eben ziellose Gleichmacherei, wie Sie mir in vielen Manuskripten begegnet: Alles ist gleichberechtigt. Aber genau das ist es eben nicht. Ein Roman ist keine »Komplette chronologische und unkommentierte Werksausgabe«, sondern eine Best-of-Compilation, die maximal subjektiv zusammengestellt wurde. Wer als Autor das nicht berücksichtigt, kippt dem Leser seinen Roman einfach vor die Füße und sagt ihm: Such dir raus, was du willst.
Das finde ich respektlos. Und Sie?

Ein Beispiel für den Verzicht auf Überflüssiges

Sehen wir uns ein echtes Beispiel für eine aufs Extremste verknappte Darstellung an. Das heißt nicht, dass Sie (immer) so schreiben müssen. Das heißt nur, dass man so schreiben kann und es wahnsinnig effektiv ist. Eben etwas, das man ab und zu anstreben könnte. Eine Anregung.
Sie finden kein Speck, nur Muskelfleisch bei diesem Ausschnitt aus »Nineteen Seventy Four« (Serpent’s Tail 1999). Er stammt aus dem Ende einer Szene, einer besonders wichtigen Stelle, weil sie zugleich den Höhepunkt der Szene bilden und den Leser zum Weiterlesen animieren muss.
Als zentrale Information hat der Protagonist herausgefunden, dass es sich bei dem gesuchten Fahrzeug um einen weißen Van handelt. Die Emotion, die er empfindet, wird im zweiten der drei letzten Sätze metaphorisch wiedergegeben (Metaphern – wunderbare Verknapper) und die Szene damit emotional zusammengefasst. Der letzte Satz schließlich schafft die Verbindung zur nächsten Szene, indem er die nächste Aufgabe des Protagonisten zeigt.
Ich habe den Abschnitt bewusst im Original gelassen, damit ich nicht durch eine holprige Übersetzung die Wirkung klein mache. Und weil es zur Jahreszeit passt und einen netten Witz zwischen den Zeilen enthält, fange ich schon zwei Absätze eher an:

I got into the Viva thinking, Jesus fucking Christ.
»Merry Christmas«, called Mr Ridyard.
I leant across to my notebook and scrawled two words only: White Van.
I raised a wave to Mr Ridyard standing alone in the doorway, a lid on all my curses.
One thought: Call Kathryn.

Überflüssiges im Roman: Fazit

Ein langer Artikel, um Sie für diese wichtige Problematik zu sensibilisieren und achtsamer beim Wörterverwenden zu machen. Wörter verwenden, nicht verschwenden!
Es geht auch nicht darum, dass Sie alle sparsam und effektiv wie Hemingway oder David Peace schreiben müssen. Sie sollten sich aber bewusst machen und bewusst bleiben, dass jedes Wort, das Sie schreiben und bei der Überarbeitung im Text lassen, eine Bedeutung haben sollte. Dass jedes Wort, das in Ihrem Roman nicht benötigt wird, den Roman schwächer macht und damit das Erlebnis für Ihre Leser. Dass Wörter nicht gleichberechtigt sind und es nicht sein sollen, wie emanzipiert Sie als Autorin oder Autor auch sonst sein mögen.
Übrigens: Selbst Hemingway würde seine Lektorin heute raten, in »Der alte Mann und das Meer« noch einen zweiten Erzählstrang einzubauen und eine Liebesgeschichte mit einer im Hafen wartenden Frau, nicht zu vergessen die ökologischen Auswirkungen des Speerfischfangs.

Merry Christmas.
One Thought: Open Presents.

Danke fürs Lesen. Bis im neuen Jahr. Rutschen Sie gut. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014


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