Gegenspieler im Roman: Gestaffelte Ziele für Ihren Antagonisten

Gegenspieler im Roman: Was unterscheidet das Ziel des Helden vom Ziel des Gegenspielers?

Ich will eine SMS von Angela Merkel. Ich will die beste Kaffeemaschine aller Zeiten bauen. Ich will die Welt retten.
So lauten typische Ziele eines Protagonisten in einem Roman. In den meisten Fällen ist es sinnvoll, dass der Leser diese Ziele möglichst früh kennt. Denn nur dann kann er erkennen, worum es geht, nur dann weiß er, was er unterstützen und womit er sich identifizieren will, nur dann kann er die Bedeutungen von Hindernissen abschätzen. Nur dann weiß er, welche Gefahren vom Antagonisten ausgehen.

Anders sieht es aus, wenn wir uns die Ziele des Gegenspielers oder Antagonisten ansehen. Zwar wird es in vielen Fällen eine kluge Wahl des Autors sein, deutlich und konkret zu machen, was der Antagonist will. In »Der Herr der Ringe« will Sauron den Einen Ring wiederhaben und verhindern, dass er in den Schicksalsberg geschmissen wird. (Warum Sauron mit all seiner Macht nicht einfach einen dicken, fetten Korken auf den Vulkan gepfropft hat, bevor Frodo mit Sam und Gollum dort ankam, weiß wohl nur J. R. R.)
Doch es gibt ebenfalls viele Geschichten, in denen es für den Leser spannender ist, wenn er das Ziel des Gegenspielers nicht kennt.
Wichtig bleibt hier, dass Sie auch in einer solchen, zunächst unklaren Ziel-Lage für reichlich Konfliktstoff sorgen. Das funktioniert selbst dann, wenn Sie die Ziele Ihres Antagonisten im Dunklen lassen. Wenn der Leser weiß, worauf der Held hinarbeitet und wenn er Hindernisse auf diesem Weg erkennt, liefert das reichlich Material für aufregende Konflikte. Was der genaue Grund für diese Hindernisse ist, muss er zunächst nicht wissen und kann sich trotzdem bestens unterhalten.

Das zeigt zum Beispiel der Thriller »Stirb langsam 4.0« (Live Free or die Hard, USA 2007 / Drehbuch: Mark Bomback, Doug Richardson; Regie: Len Wiseman). Was genau Gegenspieler und Oberschurke Thomas Gabriel vorhat, wird erst kurz vor dem Finale des Films enthüllt, am Ende des zweiten Akts. Das aber tut der spannenden Unterhaltung bis dahin keinen Abbruch. Allein mit seinen Taten (= Hindernissen für den Helden) hält der Gegenspieler den Protagonisten (warum ihn nicht einfach »Spieler« nennen?) John McClane reichlich beschäftigt.
Nicht zu wissen, was der Schurke vorhat, sorgt zudem für die nötige Suspense, ohne die kein Thriller auskommt. Sicher, die kann man auf andere Arten erzeugen. Aber den Leser über die Ziele des Antagonisten im Unklaren zu lassen, ist eine bewährte Methode – falls für Konflikte gesorgt bleibt! (Diesen letzten Satz wiederhole ich deshalb, weil in zu vielen Romanen ein Mystery-Bösewicht auftaucht, von dem der Autor zu wenig enthüllt, um für genug Konflikte und damit für Spannung zu sorgen.)

Gegenspieler im Roman: Das wahre Ziel der NSA

Ein derzeit sehr stark in den Medien vertretener Bösewicht hat mir die Idee dazu eingegeben, wie Sie die Ziele des Gegenspielers noch im Unklaren lassen und damit letztlich für noch mehr Suspense und mehr überraschende Enthüllungen sorgen können. Ich meine die NSA, die National Security Agency, den größten Auslandsgeheimdienst der USA.

Unentschieden ist schon mal die Frage, ob die NSA überhaupt ein Bösewicht ist – wie das die Wahrnehmung des Geheimnis vieler Menschen gerade in Europa nahelegt – oder ein Gutewicht – fragen Sie den Chef der NSA oder Barack Obama. Eine solch unterschiedliche Wahrnehmung macht in vielen Fällen einen gelungenen Antagonisten aus. Für die einen ist er ein größerer Held als Winnetou, für die anderen der schlimmste Schurke seit Dschingis Khan.
Für einen aber sollte der Bösewicht immer ein Held sein: für sich selbst. Das ist besonders dann wichtig, wenn Sie einen Teil Ihres Romans auch aus Sicht des Gegenspielers erzählen. In dem Fall nämlich wird seine Glaubwürdigkeit auch von der Glaubwürdigkeit seiner Motive abhängen und von der Schlüssigkeit, mit der er seine eigenen Taten rechtfertigt.

Die NSA gäbe einen gelungenen, vielschichtigen Antagonisten ab.

Offiziell verwendet die NSA ihre erschnüffelten Daten vor allem zur Bekämpfung oder Prävention des Terrorismus. Interessant ist hier auch, wie die NSA getreu ihrer Schurkenrolle die eigenen Taten rechtfertigt. Verbrechensprävention durch Verbrechen – erinnert mich ein bisschen an König Herodes, der mit dem Abschlachten aller Neugeborenen ebenfalls für eine wirksame Verbrechensprävention sorgen wollte. Hat nicht ganz hingehauen.

In der Öffentlichkeit hingegen wird die NSA, vor allem bei uns in Europa, als Bespitzelungsmaschine wahrgenommen, die den armen Privatmann bei seinen doch nicht so heimlichen Telefonaten mit seiner heimlichen Geliebten belauscht oder die E-Mails der Oma liest, die ihrer Enkelin das Rezept für ihren echt Osnabrücker Gurkensalat schickt.
Die Medien, mal wieder nur zu willig, in die Propagandafalle der Politik zu gehen, greifen diese Wahrnehmung begierig auf, verstärken Sie dadurch noch und machen sich so zum Instrument einer Organisation, die sie doch eigentlich entlarven wollen.
Derweil behauptet man von Seiten der NSA weiter beharrlich, man sei kein bisschen an Omas Gurkensalat interessiert und auch nicht an dem neuen Spitzenhöschen, das Gerlinde ihrem Gerhard per Webcam vorführt. Je vehementer aber die NSA diese Dinge behauptet, desto glaubhafter werden die Medien mit ihrer Ablenkungskampagne.
Ironischerweise ist unser Beispielschurke NSA tatsächlich kein bisschen am Gurkensalat interessiert (Barack Obama bekommt davon Blähungen), verbreitet also nichts als die Wahrheit. Ohne freilich die ganze Wahrheit zu enthüllen. Aber die ist, dank der Ablenkungskampagne, sicher.

Worauf es die NSA tatsächlich abgesehen hat, ist etwas ganz anderes. Um darauf zu kommen, muss man nur eine Leitlinie der Drogenfahnder weltweit beherzigen: Follow the money. Wenn du an die Hintermänner willst, geh nicht den Drogen nach, sondern folge der Spur des Geldes.
Tut man genau das im Fall der NSA, muss man sich fragen, welche finanziellen Vorteile das weltweite Abhören bringt. Die Antwort ist einfach und schlüssig: Wirtschafts- und Industriespionage zugunsten amerikanischer Firmen und amerikanischer Politik. Statt Gurkensalat von Oma und Spitzenhöschen von Primark ist unser Schurke weit mehr an den Benzinpumpen von Porsche interessiert oder am Leitwerksmechanismus eines Airbus, er findet Vorabinformationen über ein spanisches Gesetz zur Wirtschaftsförderung spannender als die Einkäufe von Henrietta Schmidt bei Zalando.
Im Licht etwa des herannahenden Freihandelsabkommens zwischen der EU und den USA sind erspähte und erspitzelte Vorabinformationen viele, viele Milliarden US-Dollar wert. Follow the money.

Gegenspieler im Roman: Die gestaffelten Ziele Ihres Antagonisten

Was aber heißt das jetzt übersetzt für den Schurken in Ihrem Roman?

Schaffen wir mal zusammen einen Schurken mit vielschichtigen Zielen. Nennen ihn Bosse. Bosse können Sie gleich in seiner ersten Szene mit einem Ziel ausstatten, aus dem er keinen Hehl macht. Das kann etwa darin bestehen, eine Bank zu überfallen und Geld zu erbeuten. Ein interessantes Ziel, das reichlich Konfliktstoff bietet – zumal Ihr Held Ulrich gerade mit seiner alten Mutter am Bankschalter steht. Im weiteren Verlauf des ersten Akts, der Exposition auch Ihres Schurken, lassen Sie den Leser miterleben, wie Bosse mit seinen Helfern auf dieses Ziel hinarbeitet.
Ihr Held Ulrich und seine Mutter Hedwig werden ein Teil der Geiselnahme.

Das erste, vordergründige (oder, wie bei der NSA, das offizielle) Ziel ist dann mit am besten platziert, wenn es den Roman in Gang setzt. Das erste Ziel des Schurken sorgt für das auslösende Ereignis.
Schon hier zeigt sich der entscheidende Unterschied zum Mystery-Bösewicht mit den unbekannten Zielen: Der Leser kennt das Ziel des Schurken Bosse – auch wenn es ein falsches ist ergeben sich daraus für den Leser Konflikte und damit Spannung: Banküberfall! Geiselnahme! Mutter in Gefahr! Dazu können Sie ein Geheimnis andeuten – »Ist das wirklich das, was der Bösewicht will?« – und eine Überraschung bei der Enthüllung des tatsächlichen Ziels viel später im Roman.

Gegen Ende des ersten Akts aber wird Ulrich Zeuge, wie Bosse eins der Schließfächer untersucht und in sein Handy spricht: »Die Pläne sind nicht hier.« Ulrich und der Leser ahnen: Es geht Bosse gar nicht um die Kohle, sondern um irgendwelche Pläne. Die er, so vermutet Ulrich, teuer verkaufen will.
Dass sich Bosse und seine Leute ausgerechnet Hedwig als Geisel aussuchen, die sie zu ihrem Schutz bei der Flucht mitnehmen, sorgt erstens für die Katastrophe bei Ulrich und anschließend für seinen ersten Plotpoint: »Finde und befreie Hedwig!«

Auch hier haben wir die Enthüllung des zweiten, des vermeintlichen Ziels bestens platziert: Es sorgt erneut für einen Meilenstein im Plot, nämlich für den ersten Plotpoint. Das Roman-Ziel des Helden »Finde und befreie Hedwig!« wird also vom vermeintlichen Ziel des Protagonisten ausgelöst.
Wichtig ist nicht, ob dieses Ziel des Schurken sein eigentliches ist. Wichtig ist die Entscheidung beim Helden, die damit angestoßen wird.

[unten geht’s weiter im Text …]



Schreibcamp: Emotionen – Die 29-Tage-Fitness für Ihren Roman (Arbeitsbuch)
EAN/ISBN: 9783847694397
Kindle E-Book | epub E-Book für alle Geräte | Im Buch blättern | Rezension bei Amazon verfassen | Fehler im Buch per Mail an den Autor melden


Das vermeintliche Ziel könnte auch das tatsächliche Ziel sein und bleiben. Allein auf dieser Grundlage ließe ein toller Roman schreiben. Doch manchmal kann man eben noch einen draufpacken, um dem Leser mehr Thrill und Überraschungen zu bieten.
Hier entlarvt Ulrich am Ende des zweiten Akts, was Schurke Bosse mit den Plänen vorhat: Die Pläne zeigen den Zugang zu einem alten, vermeintlich leeren Raketenbunker der USA, wo noch der Sprengkopf einer Atombombe lagert. Er will diesen Sprengkopf und er will damit von der Bundesregierung eine Milliarde Euro erpressen.

Das tatsächliche Ziel des Gegenspielers sorgt erneut für einen Meilenstein im Plot. Hier stößt es die Enthüllung den zweiten Plotpoint am Ende des zweiten Akts an: Ulrichs neues Ziel: »Verhindere, dass Bosse den Sprengkopf aus dem Bunker holt!«

Sie können die verschiedenen Ziele des Schurken auch an anderen Stellen im Plot offenlegen. Doch tun Sie das nur, wenn Sie überzeugende Gründe dafür haben. Denn der Leser wird die Ziele für umso wichtiger halten, je wichtiger die daraus resultierenden Entscheidungen des Helden sind – und die Entscheidungen in den Plotpoints sind nun mal die wichtigsten für den Roman. Auch für Ihren.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

PS: Ja, Ulrich rettet seine Mutter. Im Epilog macht sie ihm zur Belohnung einen echten Osnabrücker Gurkensalat.