Rhythmus beim Schreiben: So schreiben Sie aufregende Szenen, in denen nichts Aufregendes geschieht

Rhythmus beim Schreiben: Lesen ist wie Atmen

Lesen ist wie Atmen. Für manche ebenso wichtig. In diesem Artikel aber kommt es mir auf den Rhythmus des Atems an.
Stellen Sie sich Ihren Roman als einen Lauf vor. Welcher Distanz entspricht er? Einem Marathon, bei dem es auf einen gleichmäßigen, aber sehr langen Atem ankommt? Das könnte der Fall sein bei einem sich über mehrere Generationen erstreckenden, eher literarischen Familienepos mit ausführlichen Charakterzeichnungen. Oder ist Ihr Roman ein 400-Meter-Lauf mit seinem konstant schnellen Atem, eine brutale Distanz wie ein langgezogener Sprint? Ein guter Thriller löst bei seinen Lesern ein solches Atemverhalten aus: Rascher Atem, am Ende nur noch ein Hecheln, rasender Puls von Anfang bis Ende und ohne Unterlass.
Dann gibt es die Romane, die ihre Leser mit einer solchen emotionalen Wucht treffen, wegen unerhörter Ereignisse, unvergesslicher Szenen, einer aufwühlenden Sprache, dass dem Leser der Atem bisweilen stockt.

Manche Romane lassen ihren Lesern genug Pausen, damit sie Atem schöpfen können. In solchen Romanen finden auch Szenen ihren Platz, in denen nichts Sensationelles geschieht. Ist das etwas Schlimmes? Nein, im Gegenteil …
Leider benutzen manche Autoren diese Begründung als Erlaubnis, uninteressante Szenen zu schreiben. Andere sagen sich: Ich muss meine Leser auch mal zu Atem kommen lassen. Also fahre ich das Tempo zurück und lasse meine Protagonistin eben bloß nachdenken, während sie vom Schauplatz des ersten Verbrechens zum Schauplatz des nächsten Verbrechens fährt. Oder ich ballere meine Leser mit ausführlicher Backstory und ausschweifenden (langatmigen!) Erklärungen voll.

Was stimmt: Beim Schreiben ist es sinnvoll, zwischen Aktion (Handlung) und Reaktion (Emotion oder Reflexion) hin und her zu schwenken. Auch das erzeugt, auf einer Mikro-Ebene (die Grafiken hier befassen sich mit der Makro-Ebene), einen Rhythmus, der eine Lektüre angenehm und zugleich intensiv macht.

Doch die obigen Begründungen für langsame Szenen greifen nicht. Der Leser spürt, dass der Autor nicht mit dem Herz bei der Sache, nicht mit ganzer Energie bei der Szene war. Dementsprechend wirken auf diesem Denken gründende Szenen leider allzu oft wie die Füller, die sie sind. Und statt zum Hecheln vor Aufregung wird der Atem des Lesers … zum Schnarchen.

[unten geht’s weiter im Text …]


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Rhythmus beim Schreiben: Sensationelle Szenen schreiben, ohne dass Sensationelles geschieht

In Ihrem Roman umgehen Sie das, indem Sie solche Szenen eben nicht wie ein Pflichtprogramm abhaken – »meine Heldin muss ja mal nachdenken«, »meine Leser müssen mal runterkommen« –, sondern sie vielmehr als Chance begreifen, eine sensationelle Szene mehr zu schreiben. Bloß dass die Sensationen jetzt mal nicht in der Handlung liegen, sondern woanders.

Fragen Sie sich: Wie kann ich die Szene in einer Weise schreiben – ohne mehr plottragende Handlung einzubauen –, die zuerst mich und dann auch den Leser unterhält? Was hat überhaupt das Zeug zu guter Unterhaltung?

Nutzen Sie Szenen, die handlungsärmer sind, zum Beispiel zu Folgendem:

* Charaktere zeigen, vertiefen, ergründen, gerade auch über Dialoge
* Humor oder einen Charakter als humorvoll zeigen
* Widersprüche aufzeigen
* Überraschungen und Enthüllungen vorbereiten oder ausführen
* Erwartungen enttäuschen
* den Leser verblüffen
* Subplots vertiefen oder mit dem Hauptplot verknüpfen
* Roman-Thema ergründen
* einen Schauplatz vertiefen oder einen neuen einführen – auf unterhaltsame oder originelle Art und Weise (keine ausufernden statischen Beschreibungen!)
* Pläne des Protagonisten vorstellen
* alternative Handlungsoptionen durchdenken (lebendig und konkret, anekdotisch oder szenisch!)
* Emotionen ergründen oder vertiefen
* Handlungen (zurückliegende oder künftige) motivieren oder begründen
* Lücken füllen, Logiklöcher stopfen (bildhaft, szenisch, unterhaltsam!)
* auch in der Sprache eine klare Haltung des Point-of-View-Charakters zeigen
* und, ja, auch Informationen vermitteln – aber auf eine lebendige Art und Weise. Machen Sie die Vermittlung von wichtigen Informationen für den Leser – und für sich! – zum Fest. Führen Sie einen abgedrehten Charakter ein, der die Information überbringt. Nehmen Sie Ihre Leser dazu mit an einen ausgefallenen Schauplatz. Erklären Sie bildhaft, lebendig, sprachgewaltig. Trauen Sie sich etwas. Übertreiben Sie. Werden Sie wild! Tragen Sie mit sich selbst einen Wettkampf aus: Wenn Sie es nicht schaffen, die Information auf eine Weise überzubringen, die den Leser vor Begeisterung jauchzen lässt, dann müssen Sie zehn Liegestütze machen. Oder so.

Was wühlt Sie auf? Was begeistert Sie? Lassen Sie Ihre Leser diese Begeisterung gerade in Szenen spüren, in denen die eigentliche Handlung nicht vorankommt! Dann haben am Ende alle was davon. Schnarchen ist nämlich ziemlich ungesund, sowohl für den Leser als auch für Ihre Buchverkäufe.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014