Don Winslows Roman The Power of the dog (dt. Tage der Toten) ist kein perfekter Roman. Winslow wechselt oft recht wild die Erzählperspektive innerhalb einer Szene, er traut dem Leser manchmal zu wenig zu, wiederholt vieles, benutzt Sprecher-Zuordnungen („dachte er“), die überflüssig sind und den Lesefluss unterbrechen, bremst mit Exposition an ungünstiger Stelle sein eigenes Tempo aus, benutzt überflüssige Adverbien, schwelgt in Pathos und und und – dennoch hat er einen phantastischen Roman geschrieben.

Wie hat er das geschafft?

Winslow reißt mit der Wucht von Sprache, Handlung und Thema (US-Drogenkrieg in Mexiko, auf realistische und daher gnadenlos brutale Weise beschrieben) den Leser mit. Der Roman ist ein Tsunami, eine haushohe Welle aus starken Emotionen, die den Leser erfasst.

Was kann man daraus lernen?

Wenn es mir als Autor nur gelingt, starke Gefühle beim Leser zu erzeugen, wird mir vieles (und von vielen Lesern sogar alles) verziehen. Das klingt doch gut: Vergessen wir alles über Erzähltechniken und Erzählkunst und beschränken uns darauf, den Leser zu berühren. Oder? Nein, sorry, so einfach ist es nun doch nicht. Das Erzeugen von Gefühlen beim Leser ist eine hohe Kunst (auf die wir hier noch häufiger zu sprechen kommen werden). Starke Gefühle beim Autor („Ach, was geht mir die Geschichte dieses dreibeinigen Kätzchens doch nahe“) übertragen sich nicht automatisch auch auf den Leser („Ich mag lieber Hunde, und außerdem ist mir diese blöde Katze unsympathisch“). Dazu bedarf es einigen Könnens. Schließlich will man nicht nur irgendwelche Gefühle wecken, sondern ganz bestimmte an den richtigen Stellen im richtigen Maß. Klingt schon nicht mehr ganz so leicht? Gut.

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