Bei der Lektüre eines Artikels über die „wichtigsten“ Bücher der Leipziger Buchmesse ist mir eine Erkenntnis gekommen. Die auch Ihrem Roman weiterhelfen könnte.

In dem Artikel wird unter anderem ein Roman von Arno Frank vorgestellt, „So, und jetzt kommst du“.

Ein Auszug (Tropen bei Klett-Cotta, 2017):
„………
Wie Bohrköpfe aus Licht treiben die Scheinwerfer einen hellen Stollen in die Dunkelheit der Nacht. Hinter jeder Bodenwelle federt der Benz begütigend nach. Solange wir noch auf der Landstraße sind, schaukeln mich die Fliehkräfte mal nach rechts, mal nach links. Es geht voran, aber der Vortrieb selbst bleibt unmerklich. Der Motor ist ein stehender Brummton in beruhigender Frequenz.

Jeany lehnt gegen ihre Kleinfamilie aus Plüschtieren. Papa Bär, Mama Schaf und ihre gutmütige Schlange mit den angenähten Knopfaugen. Mama hat den Kopf in ihre Nackenstütze gelegt und sieht aus, als suche sie nach Mustern im gespannten Kunststoff am Wagenhimmel. Ihr Schnarchen ist ein dünnes Gluckern. Das Baby klammert sich an ihren Oberkörper wie ein Äffchen. Nur Papa ist wach, folgt den Windungen des Stollens, wählt Abzweigungen und führt uns tiefer hinein in den Berg. Ich kann nur seinen Hinterkopf sehen mit dieser erkahlenden Stelle, die er seinen „Hubschrauberlandeplatz“ nennt. Manchmal drückt er einen Knopf im unteren Teil der Mittelkonsole, kurz darauf geht in schnellem Bogen die Glut des Anzünders durchs Dunkel. Silbrige Schlieren steigen auf, hauchdünne Bänder, die sich drehen und winden. Unter der weißen Polsterung des Himmels breiten sie sich aus wie umgekehrter Bodennebel. Manchmal zieht er so stark an der Zigarette, dass er zischend Zwischenluft mit einsaugt. Sein Ausatmen ist ein gedehnter Seufzer der Erleichterung, ein Ablassen der Luft, und flutet den Innenraum mit weiteren Schleiern und ihrem grauen Geruch. Nach jeder Zigarette kurbelt er sein Fenster einen Spalt hinunter und schnippt sie hinaus, ein zerstäubender Funkenflug in der Nacht. Dort wirbelt schemenhaft der Wald, dicht wie die Bürstenwalzen einer Autowaschanlage.

Ich wache auf, weil es nicht mehr schaukelt. Wir stehen, es scheint taghell herein. Jeany schläft weiter, das Gesicht in einem grellen Balken aus Licht. Vorne brabbelt das Baby, meine Mutter antwortet flüsternd, in zustimmendem Ton: „Ja, ja, bekommst du gleich …“

Ich richte mich müde auf, es ist noch immer tiefe Nacht. Wir parken unter einer gleißenden Bogenlampe. Auf der Betonfläche des Rastplatzes liegen vereinzelte Lastwagen wie ankernde Frachtschiffe. Es riecht nach Benzin und Regen und den Bananen, die meine Mutter immer isst, wenn sie das Baby stillt. „Wo sind wir?“, frage ich, die Beine ausstreckend.

„Goldene Bremm“, sagt Mama, während sie ihren Pullover hochkrempelt. Goldene Bremm, das klingt sagenhaft. Wie bei Jules Verne ein verborgenes Tor ins Innere der Erde am Fuß eines isländischen Gletschers. Oder wie etwas, vor dem behelmte Helden noch einmal ihre Pferde tränken, bevor sie weiterreiten.
………..“

Liest sich süffig weg, nette Beobachtungen, sprachlich gekonnt, da kann einer schreiben. Und doch, etwas fehlt für mein Verständnis von Literatur. Na, ist Ihnen aufgefallen, was das sein könnte?

Emotion.

Der Auszug, den ich gelesen habe, geht so weiter, von Emotionen keine Spur.
Ist das schlimm?
Ja.
Warum ist das schlimm?
Weil Emotionen in einem Roman Reaktionen der Charaktere auf Ereignisse sind — und selbst wieder die Grundlage für Handlung. Weil Emotionen Aufschluss darüber geben, wer der Charakter ist und, noch wichtiger, ob und wie er sich verändert.

Der Erzähler oben, ein Charakter im Roman, zeigt keinerlei Reaktion auf seine Beobachtungen.

Ein Roman ohne Emotionen muss statisch bleiben. Ein statischer Roman aber … ist keiner. Er tut nur so.
Tatsächlich herrscht in der deutschen Literatur der Konsens, dass Beobachtungsliteratur seriöse Literatur sei und Emotionen so etwas wie der Zucker seien, den die miesen Genreschreiber über ihre Texte streuen.
Tatsächlich ist dieser „Zucker“ für einen Roman ebenso überlebenswichtig wie für unseren Körper. Ohne Zucker tut sich nichts. Kein Leben.

Beobachtungen in einem Roman sind nur insofern relevant, als dass sie für den Charakter relevant sind, der sie anstellt. Emotionen sind der beste (man könnte so weit gehen und schreiben: der einzige) Beleg dieser Relevanz.

Paradoxerweise versuchen viele Autoren, die diese Leere und Irrelevanz spüren, ihren Romanen mehr Relevanz dadurch zu geben, dass sie noch genauer und besser beobachten, noch nuancierter schreiben.

Aber wenn ich mehr Mehl in den Kuchen gebe, wird er dadurch nicht süßer.

Ergo: Literatur, die ohne Emotionen auszukommen versucht, ist … irrelevant.

Sorry, liebe Literaten, ich weiß, ihr müht euch redlich. Aber womöglich müht ihr euch am falschen Ende.

(Nicht, wenn ihr im Literaturbetrieb und in den Feuilletons relevant sein wollt. Da bleibt ihr besser bei eurer sprachlich ausgefeilten Beobachtungsliteratur.)

Wir anderen schreiben derweil Relevanteres. Auch wenn sich kein Feuilleton dafür interessiert.

…………………..
Hier können Sie mehr davon lesen:
http://www.spiegel.de/kultur/literatur/so-und-jetzt-kommst-du-von-arno-frank-peng-schock-roman-auszug-a-1137000.html