Schreibtipp: Bandwurmsätze und Bestseller

Der Bestseller beginnt so:
»—
Während die anderen Gäste unter einem Sommerabendhimmel über die Terrasse des Beach Clubs flanierten, wo sie verkniffen an ihren Cocktails nippten, um zu überprüfen, ob die Barkeeper auch wirklich den besten Stoff verwendeten, auf Papierservietten kleine Crab Cakes balancierten und dabei passend bemerkten, was für ein Glück sie mit dem Wetter hätten, morgen solle es ja wieder schwül werden, oder Unpassendes über das zu enge Satinkleid der Braut murmelten und sich fragten, ob das ausladende Dekolleté schlecht geschnitten oder schlechter Geschmack war (ein Look, wie ihre eigenen Töchter sagen würden) oder einer überraschenden Gewichtszunahme zu verdanken, und sich dann zuzwinkerten und witzelten, bald müsse sie wohl die Toaster gegen Windeln eintauschen, verließ Leo Plumb die Hochzeit seines Cousins mit einer der Kellnerinnen.
—«

(Cynthia D’Aprix Sweeney, Das Nest, Klett-Cotta 2016)

Immer wieder erstaunlich, welche Bücher zu Bestsellern werden. Mich würde schon dieser erste Satz des Romans abschrecken, andere Leser sind da wohl härter im Nehmen. (Der Roman mag wunderbar sein, ich kenne ihn nicht. Mir geht es hier nur um den ersten Bandwurm von einem Satz.)
Allerdings möchte ich wetten, dass kein deutscher Verlag den Roman angenommen, wenn er von einem unbekannten deutschen Autor stammte statt von einer amerikanischen Bestsellerautorin.
Ja, ja, zweierlei Maß …
Das Schlimme an dem Satz ist ja, dass er am Ende nicht mal eine adäquate Belohnung fürs Durchhalten bietet. Ein Unbekannter verlässt die Hochzeit seines Cousins mit einer der Kellnerinnen. Na und?
Ganz anders wäre es bei dieser Variante (nur der letzte Nebensatz ist anders). Dann hätte auch ich weitergelesen:

»—
Während die anderen Gäste unter einem Sommerabendhimmel über die Terrasse des Beach Clubs flanierten, wo sie verkniffen an ihren Cocktails nippten, um zu überprüfen, ob die Barkeeper auch wirklich den besten Stoff verwendeten, auf Papierservietten kleine Crab Cakes balancierten und dabei passend bemerkten, was für ein Glück sie mit dem Wetter hätten, morgen solle es ja wieder schwül werden, oder Unpassendes über das zu enge Satinkleid der Braut murmelten und sich fragten, ob das ausladende Dekolleté schlecht geschnitten oder schlechter Geschmack war (ein Look, wie ihre eigenen Töchter sagen würden) oder einer überraschenden Gewichtszunahme zu verdanken, und sich dann zuzwinkerten und witzelten, bald müsse sie wohl die Toaster gegen Windeln eintauschen, verließ Leo Plumb die eigene Hochzeit mit einer der Kellnerinnen.
—«

Das wäre ein Satzende, für das sich der Anfang gelohnt. Das wäre ein Romananfang, der zum Weiterlesen animiert.

Denken Sie daran, Ihren Lesern immer wieder Belohnungen zukommen zu lassen, insbesondere dann, wenn Sie sie fordern. Das gilt nicht nur für Bandwurmsätze.