Erinnerung als mächtiges Instrument für Romanautoren

Ein lesenswerter Artikel von Christine Schuhmann »Psychologie für Erzähler 01: Kognitive Verzerrungen« hat mich angeregt, mal ein wenig über eine der typischen Verzerrungen nachzudenken, die Romancharaktere tiefer und die Geschichte interessanter machen können: die Erinnerung.
Erinnerung ist kein Abruf von Tatsachen, sondern ein kreativer Prozess, der von zahllosen Faktoren wie etwa Gefühlen, Einstellungen, Interesse, Verdrängung beeinflusst wird und so die Geschehnisse bestenfalls verzerrt, schlimmstenfalls komplett neu erfindet.

Klingt nach einem wunderbaren Tummelfeld für Autoren.

Das fängt mit Kleinigkeiten an: Ein Mann und eine Frau diskutieren darüber, in welchem Restaurant sie an ihrem Hochzeitstag vor zehn Jahren waren. Jeder glaubt sich im Recht. Über den Subtext entlarvt der Dialog die Charaktere und ihre Beziehung.

Am anderen Ende des Erinnerungskontinuums finden sich Romancharaktere, die ihr Gedächtnis komplett verloren haben. Immer wieder ein beliebtes Thema insbesondere in Thrillern, und meist so unlogisch und stereotyp dargestellt wie Romane über Zeitreisen. Meiner Meinung nach kann man als Autor an der Thematik nur scheitern.

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Ein anderes Einsatzgebiet verzerrter Erinnerungen ist es, die (notwendig subjektive) Erinnerung des Helden einer (relativ objektiven) »Realität« gegenüberzustellen, wie sie zum Beispiel ein wiedergefundener Zeitungsartikel darstellen könnte.

Je nachdem, in welcher Reihenfolge Sie die tatsächlichen Geschehnisse und die Erinnerung daran Ihren Lesern präsentieren, erzielen Sie ganz unterschiedliche Effekte.

Beispiel.

Sie erzählen aus der engen dritten Person des Helden Thomas Held einen Autounfall, bei dem die Frau des Helden Sylvia ums Leben kam. Der Leser kennt nur die Schilderung aus Sicht von Held – und wird Held, sofern Sie dem Leser keine Zweifel liefern, die Geschichte glauben.
Jahre nach dem Unfall macht der Held sich auf die Suche nach dem Mann, der den Unfall verursacht hat und Fahrerflucht beging. Es wird zur Besessenheit, eine spannende Jagd beginnt.
Schließlich stellt Held den Mann, Schurkenberger, in eine einsamen Jagdhütte im Spessart und konfrontiert ihn mit den Ereignissen. Doch Schurkenberger fördert einen Zeitungsartikel zutage, aus dem klar hervorgeht, wer den Unfall verursacht hat: Thomas Held. Er war daraufhin für Jahre in psychiatrischer Behandlung. Das und die tatsächlichen Ereignisse hat er verdrängt.

Mit dieser Technik lassen Sie die komplette Geschichte kippen. Das als zentrale Idee für einen Roman zu verwenden, ist jedoch äußerst riskant. Zu leicht könnte der Leser sich verschaukelt fühlen. Doch im Kleineren könnte diese Methode für die ein oder andere überraschende Wendung gut sein.

Sie können die Reihenfolge von Ereignis und Erinnerung daran auch chronologisch korrekt wiedergeben. Am Anfang des Romans steht der Autounfall – und Sie zeigen jetzt, wie Thomas Held nach und nach den Bezug zur Realität verliert und sich immer stärker in den Wahn versteigt, jemand anderes hätte den Unfall verursacht.

Oder, für Fortgeschrittene: Sie verzahnen die Erinnerungen und einen Bericht der tatsächlichen Ereignisse so miteinander, dass sich erst im Lauf des Romans die Wahrheit herauskristallisiert.

Wie Unstimmigkeiten bei Erinnerungen einen Roman im Kleinen interessanter und auch realistischer machen, zeigt etwa Patrick Rothfuss in »The Name of the Wind« (Daw Books 2007; »Der Name des Windes« Klett-Cotta 2008 / eigene Übersetzung).

Der alte Cob lehnte sich in seinem Stuhl zurück, froh, dass er noch etwas weiter ausholen konnte. »Ein paar Tage zuvor traf Taborlin unterwegs einen Zigeuner. Und obwohl Taborlin selbst nicht viel zu essen hatte, hat er sein Abendbrot mit dem alten Mann geteilt.«
»Hat er gut daran getan«, sagte Graham ruhig zu dem Jungen. »Jeder weiß: ‚Ein Zigeuner vergilt doppelt dir jedwede gute Tat.‘«
»Nein, nein«, brummte Jake. »Sag‘s auch richtig: ‚Zigeuners Rat vergilt dir doppelt gute Tat.‘«
Der Wirt sprach zum ersten Mal an diesem Abend. »Tatsächlich habt ihr mehr als die Hälfte weggelassen«, sagte er vom Durchgang hinter der Bar.

Ein Zigeuner begleicht stets seine Schuld:
Einmal für jeden einfachen Handel.
Zweifach für frei hingegebene Hilfe.
Dreifach für jede Beleidigung.

Neben dem Mini-Konflikt offenbart dieser Austausch noch etwas anderes: Das perfekte Gedächtnis des Wirts für dieses Detail zeigt, was der Leser schon vermutet: dass hinter der Fassade des einfachen Wirts viel mehr steckt, als sich die Dörfler träumen lassen.

Und du weißt wirklich nicht mehr, wer ich bin?

SW

(c) Stephan Waldscheidt 2011

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??? Meine Frage an Sie: Wie kann man mit (verzerrten) Erinnerungen einen Roman noch stärker machen? Fallen Ihnen Beispiele ein? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar …