Warum und wie Entscheidungen des Protagonisten Ihren Roman besser machen

Zu den wichtigsten und zugleich kritischsten Momenten in einem Roman gehören Entscheidungen. An Wendepunkten können Sie die neue Richtung vorgeben, in die der Protagonist die Geschichte von da an treiben will.
Beispiel: »Ich werde die Sicherheit meines Hauses verlassen und mich auf den Weg machen und den Typen finden, der meine Frau ermordet hat.«
Manchmal sind es kleine Entscheidungen, die den Lauf der Geschichte durchgreifend ändern. Wie etwa die Entscheidung Arthur Dents, an jenem Donnerstagmorgen, an dem man sein Haus wegen einer Umgehungsstraße abreißen will, in den Pub zu gehen. Eine banale Entscheidung und dennoch eine, die ihm das Leben rettet, denn bevor sein Haus abgerissen wird, wird die Erde zerstört, denn (auch) sie muss einer (galaktischen) Umgehungsstraße weichen. Arthur Dent hat das Glück, im Pub einen Kumpel zu treffen, der ihn mit auf ein Raumschiff nimmt (Douglas Adams, »Per Anhalter durch die Galaxis«).
Entscheidungen sind häufig der erste Schritt zu Veränderungen des Charakters, häufig auch sind sie eine direkte Reaktion auf Konflikte.

Ganz gleich, was eine Entscheidung bewirkt oder wie wichtig sie für den Protagonisten oder den Plot ist, sie alle haben eins gemeinsam: Entscheidungen sorgen für Dynamik und das, bevor überhaupt etwas geschehen ist. Denn Entscheidungen wecken Erwartungen. Wie etwa die Entscheidung Harry Potters, auf die Zauberschule nach Hogwarts zu gehen. Sofort stellen sich beim Leser viele Fragen: Eine Zauberschule! Wie spannend! Wie wird es dort wohl zugehen? Wie wird er sich dort behaupten? Oder die Entscheidung Frodos im »Herr der Ringe«, den einen Ring zu nehmen und ihn zum Schicksalsberg zu bringen. Was wird ihn unterwegs erwarten?
Entscheidungen sind daher nicht selten auch ein Versprechen an den Leser.

Entscheidungen können zudem für die Charakterisierung etwas Wichtiges oder sogar Zentrales beinhalten. Das erkennt der Protagonist des SF-Romans »Dark Eden« (Chris Beckett, Atlantic Books 2012 / eigene Übersetzung). John Redlantern hat einen gefährlichen Leoparden getötet, allein und ohne Not – eine auf dieser kleinen Welt, auf der er lebt, unerhörte und nie dagewesene Sache. Obwohl er Zeit gehabt hätte zu fliehen. John hat die Entscheidung, stehenzubleiben und der auf ihn zustürzenden Bestie seinen Speer in den Rachen zu werfen, ganz bewusst getroffen.
Einige Zeit danach erklärt er seine Entscheidung einer Freudin:

Ich habe das mit diesen Momenten bis dahin nie so richtig verstanden und ich denke, viele verstehen sie nie, aber was ich da begriffen habe, war, dass ich nicht bloß entscheide, was ich tun wollte. Ich habe entschieden, was für eine Art Mensch ich sein wollte. Auf dieser Basis habe ich meine Entscheidung getroffen. Und von jetzt an, wann immer ich eine Entscheidung zu treffen habe, werde ich sie immer auf dieselbe Weise treffen.

An den wichtigsten Stellen Ihres Plots könnte eine solche Art von Entscheidung Ihren Charakter deutlich tiefer machen. Die Entscheidung betrifft in so einem Fall nicht mehr nur die nächste Handlung (»Aufstehen oder doch noch ein bisschen liegenbleiben?«), sondern die Persönlichkeit, das Wesen dieses Menschen an sich.
Eine solche Entscheidung zu treffen heißt, sich – meist bewusst – zu ändern. Sie bedeutet zudem: Alle weiteren Entscheidungen werden eben nicht mehr von diesem Menschen getroffen, sondern von einem Upgrade, in unserem Beispiel von John Redlantern 2.0.

In der klassischen Erzählweise des Drei-Akte-Schemas, auch in der Heldenreise, trifft der Protagonist eine solche, für sich als Person zentrale Entscheidung nach der großen Niederlage vor dem zweiten Plot-Point (»All is lost«). Die bisherigen Strategien haben versagt, die Aussicht auf Erfolg ist gleich null – für den Protagonisten 1.0. Um sein Ziel doch noch zu erreichen, muss er sich ändern, sich neu (er)finden. Mit anderen Worten: Er braucht das Upgrade.
Was nicht heißt, Sie dürften Ihren Protagonisten nicht schon vorher wesentlich ändern. Manchmal könnte es einer Wesensänderung bedürfen, um zu Beginn des Romans überhaupt in die Gänge zu kommen. Auch spätere Charakteränderungen können sinnvoll, ja, notwendig sein. Dafür bieten sich Wendepunkte oder andere Meilensteine im Plot an, etwa der Midpoint.

[unten geht’s weiter im Text …]
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Beachten Sie dabei drei Dinge:

1. Lassen Sie den Leser am Entscheidungsprozess des Helden teilhaben.
Je durchgreifender die Veränderung, desto eher will der Leser wissen, warum und wie sie zustande kommt. Ein bewährtes Mittel dazu ist der innere Monolog.
Falls Sie die Erklärung nur indirekt geben, sollten Sie sie dem Leser zumindest durch Handlungen und Hinweise unmissverständlich klarmachen. Das kann beispielsweise ein Satz einer Nebenfigur sein: »Seit du diesem Leoparden begegnet bist, erkenne ich dich nicht wieder, John.«
Merken Sie sich: Für den Leser ist das Warum fast immer wichtiger als das Wie.

2. Berücksichtigen Sie die Dramaturgie und dabei vor allem die Zuspitzung Ihres Plots.
Wenn Ihr Protagonist die größte Veränderung schon zu Beginn durchläuft, wirkt die Veränderung im zweiten Plotpoint am Ende des zweiten Akts antiklimaktisch. Das heißt: Das Upgrade auf die Version 2 des Helden sollte tatsächlich erst dann erfolgen. Vorher sollten die Veränderungen kleineren Sprüngen in der Versionsnummer entsprechen: beispielsweise Protgonist 1.1 zum Aufbruch, Protagonist 1.2 im Plotpoint 1, 1.5 im Midpoint.

3. Zeigen Sie dem Leser die veränderte Version Ihres Helden an konkreten Handlungen, Dialogen, Emotionen, Gedanken. Nur so überzeugen Sie den Leser, dass der Held tatsächlich ein anderer geworden ist.
Beispiel: John Redlantern erinnert sich in »Dark Eden« später selbst daran, dass er ein anderer geworden ist, als er erneut vor einer wichtigen Entscheidung steht. Dass es ihm so bewusst ist, ergibt Sinn, denn er hat seine Entscheidung zur Veränderung zuvor ja ebenso bewusst getroffen.

Leser lieben wichtige Entscheidungen der Romanfiguren. Es sind meist emotional intensive Momente, die Erwartungen wecken und einen spannenden Fortgang der Geschichte versprechen. Halten Sie diese Versprechen, aber enttäuschen Sie die Erwartungen – indem Sie sie übererfüllen. Dadurch wird Ihr Roman um so vieles besser.
Eine leichte Entscheidung, oder?

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Entscheidungen — was leisten Sie noch? Beispiele aus Literatur oder Film? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

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