Trauer (be)schreiben

Trauer ist ein sensibles Gefühl. Bestatter wissen das, ihr ganzes Auftreten ist ein einziger Tanz auf rohen Eiern. Sogar ein eigenes Wort gibt es für die Art, wie man mit Trauer umzugehen hat: pietätvoll.

Trauer ist eine Emotion, die sich wie kaum eine zweite dagegen wehrt, in einem Wort abgetan zu werden. »Petra war wütend« ist ein Satz, der in einem Roman nicht weiter negativ auffällt, »Hans-Georg freute sich über seine Zustimmung« gibt ein einfaches Gefühl einfach wieder. Der Leser hat damit kein Problem.
Aber was, wenn da steht »Elisa trauerte um ihren Mann.«? Ich als Leser nehme Elisa dieses Gefühl nicht ab, mehr noch, ich bin sauer auf den Autor, weil er versucht, mir so einen Mist zu verkaufen. Wenn es die Trauer überhaupt wert ist, erwähnt zu werden, dann verdient sie eine eingehendere Beschäftigung des Autors damit, das ist nicht mehr als pietätvoll seinen Charakteren gegenüber, den Lebenden und den Verstorbenen.

Trauer ist daher besonders anfällig für Melodrama – Emotionen, die vom Autor behauptet werden, sich aber nicht echt anfühlen – und für den besten Spießgesellen der Emotion, das Klischee. Man denke an die in Schwarz gekleidete Mutter (es gibt die Witwe und den Witwer, wie aber nennt man Eltern, die ihr Kind verloren haben?), die tränenüberströmt vor dem aufgebahrten Leichnam ihrer einzigen Tochter zusammenbricht. Natürlich gibt es solche Szenen in der Realität. In einem Roman aber fühlt sich eben nicht alles authentisch oder echt an, nur weil es sich in der Wirklichkeit genau so abgespielt hat. Ein Roman, der seine Charaktere und seine Leser respektiert, wird tiefer in das Gefühl der Trauer hineingehen und nicht bei stereotypen Bildern und Geschehnissen stehenbleiben.

Dazu sollten Sie dem trauernden Charakter treu bleiben. Jeder Mensch hat seine ganz eigene Art, mit dem Tod geliebter Menschen oder dem Verlust einer wichtigen Sache umzugehen, jeder trauert auf seine eigene Art. Andersherum: Wenn Sie einen Charakter als einen Menschen darstellen, der so bemerkenswert ist, dass man einen ganzen Roman über ihn liest, dürfen Sie nicht bei einer der stärksten Emotionen einfach auf Schema F umschalten. Sie verschenken damit so viel Potenzial, den Charakter, den Roman zu etwas Außergewöhnlichem zu machen, und den Leser anzurühren.

Ein zentrales Instrument, um das zu erreichen, ist eine möglichst konkrete Sprache, sind spezifische Details: Soziologin Ella wird sich während der Trauerfeier zum ersten Mal bewusst, wie stark ritualisiert solche Zeremonien sind und wie wenig das in die heutige Zeit passt und dieser Gedanke beschämt sie, weil sie fürchtet, er wäre pietätlos. Witwer Christoph muss bei dem erstickenden Blumenduft in der Leichenhalle daran denken, wie er im Blumengeschäft war, um seiner damals jungen Freundin die ersten Rosen ihrer Beziehung zu kaufen. Eine andere Trauernde, Steffi, reagiert mit Übelkeit auf den Anblick des Sargs, und diese Übelkeit fühlt sich genauso an wie die in ihren ersten Schwangerschaftswochen und der Gedanke, sie könnte schwanger sein von dem Mann, der dort vorn im Sarg liegt, macht sie schwindlig vor einer Mischung aus Angst und Hoffnung.

Falls der Umgang Ihres Protagonisten mit dem Verlust eines Menschen und mit seiner Trauer eine wichtige Bedeutung in Ihrem Roman hat, können Sie ihn wie eine kleine Geschichte oder einen Subplot behandeln.
In seinem Thriller »Gone For Good« (Delacorte Press 2002 / dt. »Kein Lebenszeichen«) macht Harlan Coben genau das. Die Trauer, die sein Protagonist Will beim Tod seiner großen Liebe Sheila empfindet, stellt er in mehreren Stufen da und findet sogar eine Art Höhepunkt.

In derselben Szene, in der er von Sheilas Tod erfahren musste, hat Will einen Flashback zu einer ganz einfachen Szene mit Sheila: Wie sie daheim auf dem Sofa sitzt und liest und er sie still und voller Liebe beobachtet. Diese Einfachheit ist das genaue Gegenteil von Melodrama und wirkt daher so stark. Auch bedient Coben sich konkreter Details, beschreibt, wie Sheilas Finger sich bewegen, bevor sie umblättern, wie sich ihre Augen an bestimmten Stellen des Buchs leicht zusammenziehen. Diese Rückblende ist ein Ausschnitt aus der Vergangenheit mit Sheila.

Ein paar Seiten später kommt eine Szene, die die Zukunft mit Sheila symbolisiert, eine Zukunft, die nun nie mehr stattfinden wird: Will nimmt, in der Erzählgegenwart, den Ring aus einer Schublade. Mit diesem Ring wollte er Sheila einen Heiratsantrag machen. Er hat es verschoben, weil seine Mutter im Sterben lag. Coben beschreibt den Ring ganz detailliert bis hin zum Schnitt des Diamanten und dem Ort, wo Will den Ring kaufte. Diese spezifischen Details machen die Szene authentisch, lebendig und Sheilas Tod und den Tod von Wills Zukunft umso greifbarer.

In einer dritten Szene schließlich führt Coben dieses Gefühl der Trauer zu einer Art Höhepunkt. Es ist die eindringlichste Szene und sie spielt, wie das Ihre eindringlichsten Szenen grundsätzlich tun sollten, in der Erzählgegenwart des Romans. Wills Vater besucht ihn. Seine Frau, Wills Mutter, ist erst vor wenigen Tagen gestorben. Will hat seinem Vater die Mitschuld am Tod der Mutter gegeben, es gab keine Versöhnung der beiden. Jetzt aber steht der Vater in der Tür und breitet die Arme aus – Vater und Sohn versöhnen sich. Eine bewegende Szene von großer emotionaler Kraft.

Trauer ist ein großes Gefühl. Machen Sie es nicht klein, sondern nutzen Sie die Chance, um damit Ihrem Leser ein eindringliches emotionales Erlebnis zu verschaffen. Das sind Sie ihm und Ihren Charakteren schuldig. Ach ja, und sich selbst. Denn Sie sind der wichtigste Faktor in dem Ganzen. Bringen Sie auch sich und Ihre eigene Trauer in die Szenen ein. Sie kennen das Gefühl. Sie haben es auf Ihre ganz eigene Art erlebt und mehr oder weniger verarbeitet. Nur wenn Sie von sich selbst geben, kann in Ihrem Roman etwas Großes aus der Trauer entstehen.
Das ist die pietätsvollste Art, wie Sie als Autor mit Trauer umgehen können.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Wie stellen Sie Trauer dar? Warum so? Kennen Sie Beispiele aus Literatur oder Film, wo diese Darstellung besonders gelungen oder besonders misslungen ist? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

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