Der Prolog im Roman – Teil 3

Wenn Sie der Meinung sind, Ihr Roman brauche einen Prolog, bedenken Sie erst folgendes:
* Könnte der Prolog nicht einfach „1. Kapitel“ heißen? (Und der Epilog entsprechend „X. Kapitel“?)
* Leistet Ihr Prolog etwas, das eine Szene oder Kapitel, eine Rückblende, ein Dialog oder innerer Monolog während des Romans nicht leisten kann? Wenn der Prolog das nur genauso gut tut, ist es nicht gut genug. Er sollte es besser können.
* Überwiegen die Vorteile (siehe Teil 1 vom letzten Freitag) die Nachteile (siehe Teil 2 von gestern)?
* Können Sie einen Anfang schaffen, der den Leser in den Roman hineinzieht und mit dem Protagonisten emotional verbindet? Wenn Sie einen Prolog schreiben, müssen Sie das zwei Mal können.
* Können Sie ein Ende schreiben, das den Leser befriedigt aus Ihrem Roman entlässt, ein Ende, das nachhallt? Wenn Sie einen Prolog verfassen, müssen Sie die Klammer mit einem Epilog schließen – und zwei solcher Enden schreiben.
* Prolog ist meist Backstory. Es gibt viele schöne Arten, diese in die Handlung zu integrieren.
* Lassen Sie Ihren Prolog einfach mal probeweise weg. Nehmen Sie sich den Roman wieder vor, wenn Sie Abstand gewonnen haben und stellen Sie sich die Frage: Fehlt diesem Roman der Prolog? Würde man ihn vermissen, wenn man nicht wüsste, dass es da mal einen Prolog gab? Fragen Sie Testleser, die nichts von dem Prolog wissen, der vorher da stand.
* Wenn schon Prolog, dann sollte der eine besondere Funktion erfüllen, entweder inhaltlich oder formal.
Beispiel für die inhaltliche Funktion: Der Prolog beschreibt ein aus der Erzählgegenwart gerissenes Ereignis, das der Leser vor Eintritt in den eigentlichen Roman kennen muss, um den Roman möglichst intensiv zu erleben und möglichst gut zu verstehen. Etwa ein traumatisches Erlebnis in der Kindheit. Oder er schickt der Handlung, wie früher in Romanen häufiger geschehen, einen Kommentar voraus, der die Aufnahme des Romans durch den Leser beeinflusst. So etwa Hermann Hesse in seinem fiktiven „Vorwort des Herausgebers“ in Der Steppenwolf.
Ein Beispiel für die formale Funktion liefert der Prolog des Films Star Wars. Inhaltlich ist das alles Backstory und hätte im Film selbst besser gezeigt werden können. Das Formale aber macht diesen Prolog so besonders. In einer bis dahin nie gesehenen Weise wird über eine laufende, dreidimensional anmutende Schrift die Vorgeschichte des galaktischen Kriegs erzählt.
* Dramatisieren Sie Ihren Prolog. Zeigen Sie, wenn möglich, bereits die Heldin Ihres Romans. In Aktion.
* Alternativ verleihen Sie Ihrem Prolog etwas aus dem eigentlichen Romangeschehen Herausgehobenes, etwa durch eine andere Sprache, eine andere Atmosphäre. Oder Sie lassen im Prolog durch Ihren Erzählton bereits anklingen, auf welcher Note der übrige Roman schwingt.
* Werfen Sie Fragen auf, aber bleiben Sie dabei konkret. Verlieren Sie sich nicht in mysteriösen Szenen, wo eine unbekannte Person „Sie“ einer anderen unbekannten Person „Er“ Unbekanntes (aber meist Grausliges) antut.
Beispiel.
John Hart führt in seinem Roman The Last Child den jugendlichen Helden in einem Prolog ein und beschreibt ein konkretes Erlebnis aus seiner Vergangenheit. Was den Namen des Jungen betrifft, bleibt er jedoch vage, sodass man nach dem Romananfang nicht sofort weiß, mit wem man es hier zu tun hat. Durch seine Sprache und die Dramatik gewinnt der Prolog dennoch eine Atmosphäre und Intensität, die gut zum Roman passt. Aber ist der Prolog unbedingt nötig? Eher nicht. Und der Epilog könnte ebenso gut „X. Kapitel“ heißen.
* Fassen Sie sich kurz im Prolog. Grund: Hat der Leser sich erst einmal in der Erzählebene des Prologs und in der Erzählperspektive der Person dort eingelassen, reißt ihn der Übergang zum Anfang des Romans womöglich aus dem fiktionalen Traum. Mit dem Wort Prolog beugen Sie dieser Gefahr nur teilweise vor.
* Widerstehen Sie der Versuchung, nach einem spannenden, dramatischen Prolog den eigentlichen Roman langweilig zu beginnen oder gar Ihre Heldin als wenig interessant einzuführen. Seien Sie ehrlich zu sich: Schreiben Sie den Prolog vor allem deshalb, weil Sie entweder Angst vor dem Einstieg in den Roman haben oder weil Ihnen keiner einfällt, der Ihnen gut genug erscheint? Kein Grund zur Sorge. Schreiben Sie lieber einen schwachen Anfang als gar keinen. Überarbeiten können Sie immer noch.
* Wer mag, kann versuchen, seinen Verlag auszutricksen. Schicken Sie Ihre Textprobe oder das Manuskript ohne Prolog ein. Wenn Sie den Buchvertrag haben, können Sie ja versuchen, den Prolog noch unterzubringen. Womöglich werden Sie dann aber längst festgestellt haben, dass Sie den Prolog gar nicht brauchen. Und haben sich am Ende – zu Ihrem Besten – selbst ausgetrickst.

Ungeachtet all der Nachteile des Prologs verwenden ihn Autorinnen und Autoren noch immer gerne und häufig. Manche Bücher mit Prolog werden zum Welterfolg – aber wohl weniger wegen, sondern trotz des Prologs.
Dan Browns Prolog zu The Da Vinci Code ist immerhin eine hochdramatische Szene. Den schleppenden Anfang des eigentlichen Romans hat er damit vermutlich gerettet. In der ersten Szene erwacht der Protagonist in einem Hotelzimmer – ein solcher Anfang wird in jedem Schreibratgeber zurecht verurteilt.
Der zähe und endlos scheinende Prolog von Tolkiens Der Herr der Ringe hat schon so manchen Leser vorzeitig aufgeben lassen. Und sicher auch so manchen Käufer dazu gebracht, den Laden mit leichter Handtasche wieder zu verlassen.
Ein extremes Beispiel für Eintrittsbarrieren liefert Umberto Eco mit Der Name der Rose.
Er beginnt mit einer Vorbemerkung von sechs Seiten („Natürlich, eine alte Handschrift“). Danach folgt ein Dramatis Personae, wo auf einer Seite die wichtigsten Charaktere vorgestellt werden. Anschließend informiert Eco uns auf einer Seite über das Leben im Kloster und führt die einzelnen Gebete im Tagesablaufs der Mönche auf. Dann, endlich, möchte man fast sagen, kommt – der Prolog. Auf zehneinhalb Seiten wird die Rahmenhandlung dargestellt. Der eigentliche Roman beginnt auf Seite 33 – mit dem Wetterbericht.

Warum aber wurden diese Bücher dennoch zu solchen Megasellern? Sie wurden es nicht über Leser, die im Laden zufällig das Buch in die Hand nahmen. Sie wurden es auch nicht über Nacht. Aber ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad eines Buchs kommt es nicht mehr darauf an, ob der Anfang den Leser überzeugt. Das gleiche gilt für den Bekanntheitsgrad eines Autors. Man weiß ja, dass das Buch hervorragend sein muss. Weil man so viel davon gehört und gelesen hat, weil es einem die beste Freundin empfahl. Vielleicht mit den Worten: Den Prolog kannst du überspringen, aber dann wird es richtig gut.

Da Ihr (erster) Roman von oben genannten Vorteilen der Weltbestseller nicht profitieren kann, sollten Sie sich für einen schnellen und mitreißenden Einstieg entscheiden. Sicherheitshalber. Ja, und auch spaßeshalber. Sie sollten es selbst nicht erwarten können, dass Ihr Roman endlich anfängt. Wenn der Roman nicht mal Sie als Autorin oder Autor in seinen Bann schlägt, wie soll er das bei anderen schaffen? Macht nichts: Überarbeiten.

Übrigens: Überarbeiten ist sexy.

(c) Stephan Waldscheidt 2011

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Samstag, 28. Mai 2011 in Karlsruhe
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??? Meine Frage an Sie: Wie schreiben Sie Ihre Prologe? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar …
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