So ziehen Sie Leser tiefer in Ihre Szenen und Charaktere hinein

Als Autoren haben wir den Vorteil, von außen auf unsere Szenen und die Charaktere darin blicken zu können. Wir tippen hier ein Ereignis an, sorgen dort für mehr Konflikt, verschieben die Figuren nach Belieben. Aber nicht nur Liebe macht blind. Für Macht gilt das Gleiche. Zu leicht lässt uns die Macht, die wir über alles – über alles = Allmacht! – in unserem Roman haben, zu leicht lässt sie uns vergessen, dass diese Außensicht eben doch nicht alles ist. Vor allem ist sie nicht das, was den Leser an eine Geschichte bindet. Und Leben? Bringt diese Draufsicht so wenig in den Roman wie das Spielen mit einer Märklin-Eisenbahn den winzigen Bahnhofsvorsteher aus Plastik zum Leben erweckt.

Jennifer Erpenbeck verlässt in ihrem Roman »Aller Tage Abend« (Knaus 2012) diese Draufsicht und begibt sich in die Szene. Wie in diese hier von einer Beerdigung.

Am Schluss wird ein Stück von Haydn gespielt, währenddessen erheben sich alle, und der Sohn geht nach vorn, um, wie mit dem Protokollchef besprochen, seinen Kranz selber zu nehmen. Die Urne, das Samtkissen mit den Orden der Mutter, die Bücher, die Fahnen und die offiziellen Kränze werden von den Soldaten des Wachregiments aufgenommen und an der Spitze des Trauerzugs zur Grabstelle gebracht. Der Sohn geht als erster Trauernder gleich hinter dem Träger der Urne, aber weil der Zug von diesem so langsam angeführt wird, muss er achtgeben, dass er dem nicht in die Hacken tritt. Will das Wachregiment die Gäste durch dieses langsame Gehen in die Trauer hineinzwingen? Wacht das Wachregiment über das vorgeschriebene Maß an Rührung?

Was tut die Autorin hier? Mir geht es hier nicht um einen Wechsel der Erzählperspektive, etwa vom allwissenden zum personalen, teilnehmenden Erzähler. Sondern um eine Autorin, die aus einer Sicht erzählt, die dem Leser (fiktional) beweist, dass der Text aus der Szene, aus dem Geschehen selbst kommt. Dieser Beweis, Sie ahnen es vielleicht schon, ist dieses Achtgeben des Protagonisten, dem Zugführer bloß nicht in die Hacken zu treten. Und es sind die sich daran anschließenden Gedanken: Will der Zug die Trauernden in Trauer zwingen, in das gehörige Maß an Rührung?

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Betrachtet man als Autor diese Szene von außen, kommen einem diese Ideen gar nicht erst. Man muss schon in die Szene und in den Protagonisten hineinschlüpfen, um solche Probleme wie hier mit den Hacken zu erkennen, solche Gedanken zu denken und darüber schreiben zu können.
Als Indiz für dieses Aus-der-Szene-heraus-Schreiben nimmt der Leser auch jede Abweichung vom Erwartbaren, von Klischees. Hier weint eben nicht nur jemand auf einer Beerdigung. Sondern da denkt einer an etwas ganz anderes, hat akute Probleme des Augenblicks. Genau dieses Akute ist das, was Sie finden sollten, weil es auch der Leser sucht, und nicht, wie in dieser Situation, das Chronische, das erwartbare Gefühl der Trauer oder Tränen.

Dieses Vorgehen erscheint banal, weil selbstverständlich. Doch wie leicht vergisst man in der Komplexität von Plot, Dramaturgie, Charakterbogen und und und, dass das eigentliche Leben des Romans in den einzelnen Szenen spielt.
Auch das Stellen von so total situativen Fragen, wie sie hier im Beispiel der Protagonist stellt, beweist das Gefühl und die Bedeutung des Augenblicks. Die Gedanken wirken nicht wie dem Charakter von außen eingegeben – etwa weil es der Plot gerade so will –, sie kommen aus dem Inneren der Szene heraus.

Und das ist es, was Sie tun, was Sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen sollten: Behalten Sie den Überblick über das Geschehen, aber schreiben Sie aus dem Inneren der Szenen, aus dem Inneren Ihrer Charaktere heraus. Nur dann schaffen Sie dem Leser die Möglichkeit, sich mit den Personen Ihres Romans zu verbinden, zu identifizieren, nur dann taucht der Leser ein, nur dann ergibt sich für ihn ein Lese-Erlebnis, das ihn tief befriedigt.

SW

(c) Stephan Waldscheidt 2013

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??? Meine Frage an Sie: Was bedeutet für Sie, aus dem Inneren einer Szene heraus zu schreiben? Wie machen Sie das? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar …