Die Risiken von Schockszenen zu Anfang eines Romans

Den größten Fehler, den ein Autor machen kann, ist, die Bedeutung seines Romananfangs zu unterschätzen. Auf den ersten Seiten, ja, in den ersten Sätzen werden die Weichen für die restlichen drei- oder vierhundert Seiten gelegt.
Wenn, wie in den meisten Fällen, zu Beginn der Protagonist vorgestellt wird, kommen diesen ersten Seiten die größte Bedeutung zu. Umso riskanter ist es, den Protagonisten auf eine negative Weise darzustellen. Die nämlich kann später nicht mehr oder nur noch sehr, sehr schwer korrigiert werden.

Manchmal aber verlangt der Plot eine solche Darstellung. Etwa in Romanen, bei denen der Protagonist sich vom Saulus zum Paulus wandeln soll (für Religionslegastheniker: vom Schlechten zum Guten). Oder wenn der Protagonist grundsätzlich unsympathisch sein und bleiben soll. Letzteres aber erfordert etwas, was die mangelnde Sympathie aufwiegt: Empathie und Faszination. Reines Interesse an den, vermutlich schrecklichen, Taten des Protagonisten, ist meist zu wenig, um den Leser einen Roman lang an diesen Charakter zu binden.

In seinem Roman »Der Proband« (KBV 2011) geht Autor Guido Kniesel dieses Risiko ein. Der Roman beginnt mit einer abscheulichen Szene. Der Angreifer ist, so muss der Leser im weiteren Verlauf der Handlung vermuten, der Protagonist.

Der brutale Fausthieb ließ die Hilfeschreie des jungen Mädchens abrupt verstummen. Der Schlag traf sie so unglücklich, dass sie sich tief in ihre Zunge biss.
»Du kleines, süßes Luder«, lallte er und leckte mit seiner wulstigen Zunge das Blut von ihrer zarten Haut, zuerst von ihrem Kinn und dann weiter an ihrem Hals entlang. Er drückte das wehrlose Geschöpf so fest gegen die Tür des Hauseingangs, dass sie glaubte, ersticken zu müssen.
»Jetzt zeig ich dir, was ein guter Fick ist«, stöhnte er ihr ins Gesicht, während er versuchte, die Knöpfe seiner Jeanshose zu öffnen.
Der Geruch von Alkohol und Zigaretten, der über seinen übel riechenden Atem in ihre Nase kroch, drehte ihr den Magen um. Verzweifelt versuchte sie, ihre Beine zusammenzupressen, aber gegen diese rohe Gewalt hatte sie nicht die geringste Chance. Sie spürte, wie er an ihrer Hose zerrte, wie seine gierigen Finger zwischen ihre Beine griffen.
»Nein, bitte … bitte machen Sie das nicht«, flehte sie. Die Todesangst, die sie fesselte und zu erdrücken drohte, presste erneut Schreie aus ihrem zitternden Körper.
»Halt die Fresse, du Schlampe«, keuchte er aus seinem stinkenden Maul.

So geht es weiter, bis der Angreifer gestört und, vermutlich, niedergeschlagen wird. Protagonist Paul erwacht auf der Straße mit einer Wunde am Hinterkopf. Er hatte einen Blackout. Er hält sich selbst für den Angreifer und Vergewaltiger. Das ist entscheidend für die weitere Handlung, das treibt sie voran.

Das Riskante an diesem Einstieg: Ganz egal, ob Paul der Angreifer ist oder nicht und ganz gleich, ob Paul im weiteren Verlauf als liebenswerter Mensch geschildert wird oder als Antiheld – dieser Anfang bleibt im Leser haften wie getrocknetes Blut. Dieser Anfang klebt vor allem an dem Protagonisten. Wer will über so ein widerliches Scheusal lesen? Durch diese Art der Darstellung fehlt jeder Grund für Faszination oder Interesse, der einzige Impuls, den ich beim Lesen in mir spürte, war: Vermeidung.
Als ich im weiteren Verlauf merkte, dass der Angreifer vermutlich Paul und Paul der Protagonist ist, wollte ich das Buch nicht mehr weiterlesen. Es spielte keine Rolle mehr für mich, welch sagenhafte Story der Autor im Folgenden noch aufführen mochte. Es spielte nicht mal eine Rolle für mich, dass die Wahl der Erzählperspektive (aus Sicht der jungen Frau, des Opfers) zumindest die Möglichkeit offenließ, Paul wäre nicht der Vergewaltiger, sondern der Retter. Ich musste das Buch weglegen.

Was hätte der Autor tun können, damit mein Interesse meinen Widerwillen überwunden hätte? Dass die Geschichte dieses Thrillers um psychologischen Experimente an Menschen mich grundsätzlich interessiert, ist klar, sonst hätte ich nicht das Buch angefordert.

Hilfreich wäre eine weniger krasse Darstellung. Eine, die nicht zu einhundert Prozent auf Widerlichkeit setzt, sondern deutlicher macht, dass der Angreifer im Alkoholrausch ist und eindeutig nicht mehr Herr seiner Sinne.
Sätze wie »Jetzt zeig ich dir, was ein guter Fick ist« und »Halt die Fresse, du Schlampe« verurteilen den Sprecher und offenbaren einen abstoßenden Charakter. Der auch ohne Alkohol abstoßend ist.
Begriffe und Bilder wie »Todesangst«, »gierige Finger«, »stinkendes Maul« oder gar »leckte mit seiner wulstigen Zunge das Blut von ihrer zarten Haut« haben eine absolute Qualität, die selbst durch die Entschuldigung Alkohol nicht mehr zu relativieren ist.
Durch die Erzählperspektive kann zudem keine Empathie mit dem Täter aufkommen. Hier wäre eine andere Darstellung möglich: Der Täter bekommt wie durch einen Schleier mit, was er tut, ist aber wegen des Alkohols und aufgestauter Aggressionen außer Stande, sich dagegen zu wehren.

Schreibanregung: Achten Sie in Ihren Texten darauf, dass auch die Darstellung krasser Gewalt sehr wohl Nuancen kennt. Wägen Sie jedes Wort sorgfältig ab. Das gilt verstärkt für den Anfang Ihres Romans.
Wenn Sie einen Protagonisten etwa als Vergewaltiger zeigen, sollten Sie sich bewusst sein, dass allein dies für viele Leser und speziell Leserinnen ein absoluter Begriffe ist, den Sie kaum noch relativieren oder zurücknehmen können. Egal, als wie betrunken Sie den Mann während und als wie freundlich Sie ihn nach der Vergewaltigung darstellen.
Vermeiden Sie (nicht nur, aber vor allem) zu Anfang Szenen, die auf eine Schockwirkung zielen. Schock ist etwas Kurzfristiges. Sie aber sollten mit jeder Szene das Romanziel vor Augen haben, also langfristig denken.

SW

(C) Stephan Waldscheidt 2012

PS: Ich danke KBV für die Übersendung des Rezensionsexemplars.

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