In der sechsten Staffel von The Walking Dead gibt es eine Episode, bei der die Autoren die Charaktere etwas Unerhörtes tun lassen — und dabei sowohl ihnen als auch dem Publikum eine Menge abverlangen. Und ein gewaltiges Risiko eingehen. Oder ist es vielleicht gar nicht so gewaltig?

Rick und seine Leute erklären sich bereit, einer anderen Gruppe von Überlebenden („Hilltop“) zu helfen — Ricks Leute kriegen von „Hilltop“ Lebensmittel, dafür erledigen sie deren Feinde, eine andere Gruppe Überlebender, die sich „Saviors“ nennen.

Rick macht einen Plan. Man führt ihn aus. Sie überrumpeln die beiden Wachen und schleichen sich nachts in das Quartier der Saviors ein. Alle schlafen. Und Ricks Leute töten die Saviors im Schlaf.

Es ist kaltblütiger Mord. Die Saviors haben Ricks Leuten nichts getan (auch wenn es mal mit einer anden Splittergruppe einen Zusammenstoß gab), diese Individuen, die friedlich schlafend in ihren Betten liegen, sind Fremde.

Eine Szene beeindruckte mich besonders, genauer gesagt: meine emotionale Reaktion darauf.
Glen ist einer von Ricks Leuten, die Zuschauer kennen ihn seit der ersten Staffel, begleiten ihn also mittlerweile seit sechs Jahren. Glen ist ein Guter. Er setzt Gewalt gegen Menschen nur im Notfall ein, hat bislang nur in Notwehr oder Nothilfe getötet. Und jetzt soll er einem Schlafenden, der ihm nichts getan hat, der sich nicht wehren kann, das Messer in den Schädel rammen? Es fällt ihm unendlich schwer, man sieht, wie er leidet, bis er sich dazu durchringt.
Ich hatte Mitleid mit Glen.
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Die Autoren haben es geschafft, dass der Zuschauer einen kaltblütigen Mörder bemitleidet.

Warum funktioniert das? Und warum funktioniert es in Ihrem Roman nicht?

Rick und seine Leute sind für die Zuschauer fast schon Familienmitglieder. Man hat bis zu dieser Episode gut siebzig Stunden mit den Leuten verbracht, intensive siebzig Stunden. Die Charaktere sind einem tief vertraut, man hat sie durch die härtesten Zeiten ihres Lebens begleitet. Man hat sie ins Herz geschlossen.
Und man hat schon so vieles akzeptiert, was diese Charaktere fürs Überleben von sich und ihren Freunden und ihrer Familie tun mussten und taten, dass man nun sogar einen solchen Mord, einen vielfachen Mord, akzeptiert.
Entsetzen ist da, ja, aber man verurteilt Glen und die anderen nicht für ihre Tat.

Mit Ihrem Roman haben Sie diesen zeitlichen Luxus nicht. Wenn Sie (positive) Charaktere (wie ihren Protagonisten) schwierige, unpopuläre oder gar grausame Dinge tun lassen, dann sollten Sie das erst dann in Erwägung ziehen, wenn diese Charaktere beim Leser angekommen sind, wenn der Leser sie mag und er einige Zeit mit ihnen verbracht hat. Präsentieren Sie diese schlimmen Taten zu früh, wird der Leser den Zugang zu Ihrem Roman gar nicht erst finden. Und ihn weglegen.

Die Faustregel ist einfach: Je schlimmer die Tat, desto weiter hinten im Roman sollten Sie sie bringen.

Was sind die härtesten Entscheidungen und schlimmsten Taten, die einer Ihrer Charaktere (einer der Guten!) schon verüben müsste?