Liebe Autorinnen und Autoren, ich wünsche Ihnen alles Gute für 2015. Mögen Sie in diesem Jahr endlich Ihren großen Roman beginnen / schreiben / beenden / veröffentlichen. Viel Erfolg! Und lassen Sie es mich wissen.

Dilemmas im Roman: Am Beispiel von Orphan Black
Tatiana Maslany spielt Sarah in „Orphan Black“ (Foto: Gage Skidmore)


Dilemmas im Roman = unmögliche Entscheidungen des Protagonisten

Dilemmas im Roman: Orphan Black — Eine gute Serie …

Ich mag die Fernsehserie »Orphan Black«. Sie ist spannend, zeitgemäß, intelligent, originell, gut gemacht und hat mit Tatiana Maslany eine überragende Hauptdarstellerin. Kurz: Die Serie ist richtig gut.

Trotz des großen Sehvergnügens aber blieben bei mir bislang (Mitte 2. Staffel) erzählhandwerkliche Aha-Momente aus, wie ich sie etwa bei der überragend gut geschriebenen Serie »The Walking Dead« reihenweise erlebe. Woran liegt das? Was unterscheidet eine gute Geschichte von einer großartigen? Und wie kommt man als Autor vom einen zum anderen?

Eine Szene brachte mir die Antwort. Sie spielt in der zweiten Staffel von »Orphan Black«, in der dritten Episode. Protagonistin Sarah wird von Daniel, einem Lakaien ihrer Gegenspielerin, entführt – doch Cal, ein alter Liebhaber Sarahs, verfolgt die beiden über eine einsame Landstraße und rammt mit seinem Pick-up den Wagen des Bösewichts.
Sarah kann mit leichten Verletzungen aus dem Auto steigen, Daniel liegt besinnungslos und blutüberströmt auf dem Beifahrersitz. Ist er tot?

Hier nun nimmt Orphan Black den leichten Ausweg. Und genau an dieser Stelle bleibt die Geschichte beim »gut« stehen.

Dilemmas im Roman: Orphan Black — Eine gute Serie, der es zum Großartigen fehlt, weil …

Die Zeit drängt, jeden Moment kann jemand an der Unfallstelle vorbeifahren und die Polizei rufen. Sarah und Cal müssen weg. Daher ist es immerhin (einigermaßen, siehe unten) glaubhaft, dass Sarah nur ganz kurz Daniels Puls fühlt. Sie hat kaum seine Haut berührt, da wendet sie sich auch schon wieder ab und steigt aus, offenbart überfordert von dem Anblick des vielen Blutes und der Dringlichkeit der Situation. Sie und Cal fahren davon.

Im Film ist es Sarah, die vor der Situation flieht. Tatsächlich ist es der Autor, der sich drückt. Und das ist es ein Problem, dem jeder Autor bei sich selbst nachspüren sollte.
Manchmal ist es der Plot, der dem Autor vermeintlich eine Entscheidung diktiert. Weil die Handlung in eine bestimmte Richtung weiterlaufen soll, übergeht der Autor die interessanteren Aspekte, die Chancen einer Situation. Noch schlimmer ist es, wenn er dabei seine Charaktere zu Handlungen zwingt, die nicht zu ihnen passen.
Das noch wichtigere Problem hier ist aber ein anderes: Der Autor erkennt das Potenzial einer Situation nicht oder nur unzureichend.

In unserem Beispiel aus »Orphan Black« scheinen beide Punkte eine Rolle zu spielen. Sarah ist nicht der Typ, der sich von Blut abschrecken lässt. Wieso tut sie das in dieser Situation?
Noch wichtiger aber für die Geschichte an sich ist das verschenkte Potenzial der Szene.

Spinnen wir sie mal weiter. Statt sofort aus dem Auto auszusteigen, lässt Sarah sich mit dem Puls und dem Nachprüfen von Lebenszeichen ein paar Sekunden Zeit. Was auch glaubhafter wäre. Ob Daniel tot ist, ist eine bedeutsame Frage: Wird er sein Wissen um den Verbleib von Sarahs Tochter weitergeben können und Sarah und Cal weiter verfolgen?
Sarah stellt fest, dass Daniel noch lebt.

Punkt. Hier sind wir an der im Wortsinne entscheidenden Stelle der Szene, an dem Punkt, wo Gutes zu Großartigem werden kann.

Dilemmas im Roman: Von gut zu großartig

Daniel liegt ohne Besinnung hilflos vor Sarah. Der Mann stellt eine Gefahr für ihr Leben und, noch wichtiger für Sarah, für das Leben von Sarahs kleiner Tochter Kira dar. Was soll Sarah tun? Die vernünftige Entscheidung wäre es, Daniel zu töten. Dieser Mord könnte sogar der alles entscheidende Schritt zu Kiras Rettung sein.
Aber es wäre Mord, noch dazu an einem Hilflosen.

Was soll Sarah tun? Sie steckt in einem Dilemma. Und Dilemmas mit maximal hohen Einsätzen sind einer der Aspekte, die eine großartige Geschichte ausmachen.

Das Erstaunliche an einem solchen Dilemma: So wichtig die Entscheidung für die Geschichte, den Film, den Roman ist, so unwichtig ist zunächst, welche Entscheidung die Protagonistin trifft. Wichtig ist, dass sie überhaupt zu einer Entscheidung gezwungen wird.
Selbst der Zuschauer oder Leser sieht sich auf einmal selbst mit diesen Fragen konfrontiert: Wie würde er sich entscheiden? Was ist das Richtige für Sarah? Welche Konsequenzen würde das für den Menschen Sarah haben, zur Mörderin zu werden? Heiligt der Zweck die Mittel?
Dass das Dilemma wichtiger als die Entscheidung ist, sehen Sie, wenn wir die Geschichte weiterspinnen.

1. Sarah tötet den hilflosen Daniel.
Sie wird zur Mörderin. Beim Zuschauer oder Leser lebt Sarahs Dilemma fort: Hätte er sich ebenso entschieden? War Sarahs Entscheidung im Rückblick die richtige?
Das Spannende für den Autor und den Fortgang der Handlung: Nach einer solchen Tat ist Sarah nicht mehr dieselbe. Die Tat muss Auswirkungen auf ihren Charakter und damit auf die ganze weitere Geschichte haben.
Sarah ist als Charakter nach dieser Entscheidung noch mehr da, noch präsenter, lebendiger.
Sofort und automatisch ergeben sich weitere spannende Fragen: Was, wenn der Mord nichts genutzt hat? Wenn ein anderer kommt, der Sarahs Tochter entführt? Was, wenn Daniels Bruder diese Bluttat rächen will und nun auch noch in die Handlung eingreift, es Sarah noch schwerer macht, ihr Ziel zu erreichen? Wird der Leser Sarah nach dieser Tat überhaupt noch mögen, ihr noch folgen, sich mit ihr identifizieren wollen?

2. Sarah lässt Daniel am Leben.
Auch hier ergeben sich automatisch weitere spannende Fragen: Warum tut Sarah das? Weil sie zu feige ist? Oder zu anständig? Ist ihr das Leben ihrer Tochter nicht genug wert, einen Mord zu rechtfertigen? Was, wenn sie durch ihre Milde Schuld daran ist, wenn ihrer Tochter etwas zustößt?
Auch nach dieser Entscheidung wird Sarah präsenter und lebendiger. (Diese Entscheidung dürfte in vielen Fällen die einfachere und auch gesündere sein – für den Fortgang der Serie.)

Sie sehen, nach einem Dilemma ist, was Dramatik und Spannung und Charaktertiefe betreffen, jede Entscheidung die richtige. Tiefe und Bedeutung des Dilemmas werden dadurch belegt, dass jede Entscheidung enorme Konsequenzen nach sich zieht. Und damit aus einem guten Roman einen großartigen machen kann.

Aber selbst ein großartiger Roman kann noch getoppt werden. Etwa, indem Ihnen eine überraschende dritte Lösung für das Dilemma einfällt. Hier aber sollten Sie vorsichtig sein. Es gibt viele Auswege aus einem Dilemma, die zwar überraschend sein mögen, den Leser jedoch enttäuschen.
In unserem Beispiel wäre das beispielsweise, wenn Sarah noch unentschieden ist, aber Cal ihr die Wahl abnimmt und Daniel erschießt. Mit einer solchen Variante lassen Sie Ihre Protagonistin sofort wieder vom Haken.

Was immer Sie tun, um ein solches Dilemma aufzulösen: Machen Sie es Ihrer Protagonistin damit nicht einfacher und sorgen Sie dafür, dass die Folgen einer überraschenden Entscheidung mindestens ebenso tiefgreifend sind wie bei einer Wahl der beiden Alternativen.

Ganz zentral ist: Der Protagonist muss die Entscheidung selber treffen oder selbst den Ausweg aus dem Dilemma finden.
Alles andere erleichtert ihm den Weg zu seinem Ziel – und genau das wollen Sie nicht. Sie wollen es Ihrem Helden so schwer wie möglich machen. Denn nur so erhalten Sie am Ende poetische Gerechtigkeit, nur so verdient sich die Protagonistin ihr Happy End. Nur so schließt der Leser Ihr Buch mit einem guten, ach was, einem großartigen Gefühl.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014


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