Timing beim Schreiben: Zeitfallen in einem Bestseller und einem Blockbuster entlarvt

Timing beim Schreiben: Timing im Leben und in Geschichten

Wenn Sie Ihren Chef ausgerechnet dann nach einer Gehaltserhöhung fragen, wenn er gerade eben bei seinem Chef herausgekommen und selbst keine Erhöhung seines Gehalts bekommen hat. Wenn eine Freundin Ihnen einen Witz erzählt und einfach nicht zur Pointe kommt. Wenn ein Musiker seinen Einsatz verpasst und damit das ganze Orchester aus dem Takt bringt.
Alle diese Fälle haben eins gemeinsam: schlechtes Timing. Schlechtes Timing kann einen Witz ebenso ruinieren wie ein Konzert oder eine Karriere, ja, wie ein ganzes Leben.

Eine wichtige Unterscheidung beim Timing: Fälle, in denen der Akteur es hätte besser wissen können und Fälle, in denen er keine Chance hatte, es besser zu wissen. Leztzteres nenne ich daher lieber schlicht Pech.
Das Beispiel mit der Gehaltserhöhung könnte schlechtes Timing sein oder Pech. Schlechtes Timing dann, wenn Sie Ihrem Chef ansehen, dass er mies drauf ist und Sie sich trotzdem diesen Moment für Gehaltsverhandlungen aussuchen. Es könnte aber auch Pech sein, wenn Sie ins Büro Ihres Chefs gehen und keine Ahnung haben, wie er gelaunt ist und was er gerade hinter sich hat.

Beim Schreiben und Veröffentlichen ist es nach dieser Unterscheidung eher Glück als gutes Timing, wenn Ihr unaufgefordert eingesandtes Manuskript auf eine Lektorin stößt, die es liebt und auf ein Verlagsprogramm, das genau noch diesen Platz für diesen Roman frei hat. Sofern Sie zuvor einen tollen Roman geschrieben haben, versteht sich.

In den Geschichten selbst gibt es viele Möglichkeiten, wie der Faktor Zeit ein Problem für den Autor werden kann. Das beginnt schon auf der Mikroebene, wenn etwa ein Satz zu lang gerät und dadurch den Leser verwirrt. Oder wenn ein als knapp und präzise und schweigsam eingeführter Charakter in einem Dialog diese ganze Einführung Lügen straft, indem er seitenlang in Vierzig-Wort-Sätzen schwafelt.
Der Faktor Zeit wird auf der Makro-Ebene des Romans ein Problem, wenn der Roman zu lang wird oder wenn die Spannung so ausgedehnt wird, dass sie nicht reißt, sondern ausleiert. Oder wenn in einem Subplot dem Charakter die Zeit reicht für ein Fünf-Gänge-Menü, während im parallel verlaufenden Subplot die Heldin in derselben Zeit nichts weiter schafft, als sich die Lippen nachzuziehen.

Timing beim Schreiben: Wie der Bestseller »Der Code« an der Zeit scheitert

Ein Fall von schlechtem Timing ist mir letzte Woche gleich in doppelter Gestalt begegnet. Einmal in dem Thriller »Der Code« von Fredrik T. Olsson (Piper 2014), das zweite Mal in dem SF-Film »Interstellar« von Christopher Nolan (USA, Großbritannien 2014; Drehbuch: Jonathan Nolan, Christopher Nolan; Regie: Christopher Nolan).

In »Der Code« wird ein ausgedienter Kryptologe William Sandberg aus geheimnisvollen Gründen von einer geheimnisvollen Gruppe entführt, die geheimnisvolle Ziele verfolgt. (Der Roman ist für mich ein Beispiel dafür, wie eine Geschichte unter zu viel Vagheit und zu viel Geheimniskrämerei leidet. Dabei fängt der Roman gut an. Lesen Sie mal den Anfang: http://www.piper.de/buecher/leseprobe/der-code-isbn-978-3-492-96737-2/extract)
Der Leser erlebt mit, wie William Sandberg entführt wird. Er erwacht in einem Flugzeug (wo niemand ihm sagt, was Sache ist und wo er ein weiteres Mal betäubt wird) und wird schließlich in ein altes Schloss gebracht (wo ihm lange Zeit ebenfalls niemand sagt, was Sache ist). Man führt ihn durchs Schloss, hält ihn hin und dann, in einer langen Szene, unterhalten sich zwei der führenden Mitglieder der geheimnisvollen Gruppe endlich mit ihm.
Beim letzten Absatz der Szene (S. 74) musste ich das Buch zuklappen und werde es auch nicht mehr aufschlagen. Darin heißt es:

Endlich räusperte Franquin sich.
Ließ seinen Blick von der Wand zu William wandern und dort verharren, unerschütterlich, ruhig.
»Sandberg. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« Er holte Luft …

Und ich holte aus, um das Buch gegen die Wand zu werfen. Was ich dann aus Respekt vor dem Autor nicht getan habe. Ich sage hier nichts gegen das Buch, das ich nur bis Seite 74 gelesen habe. Es war nichts für mich, für andere anscheinend schon, wie viele begeisterte Kritiken zeigen. Für mich aber hatte die endlose Vagheit meine Geduld schon überstrapaziert. Und dann kam noch dieses völlig verunglückte Timing hinzu:
Über dreißig, vierzig Seiten wird der Leser hingehalten, erlebt diese Entführung, die Tage dauert, mit – und jetzt behauptet der Initiator, die Zeit dränge? Tut mir leid, das ist für mich ein solch gewaltiger Hammer, ein solches Buch kann ich nicht mehr weiterlesen.
Lesen heißt dem Autor vertrauen. An dieser Stelle hatte der Autor mein Vertrauen in ihn endgültig zerstört. Auch wenn er es bestimmt nicht mit Absicht getan hat.

Timing beim Schreiben: Wie der Blockbuster »Interstellar« an der Zeit scheitert

Der andere Fall ist noch pikanter. Ausgerechnet Christopher Nolan leistet sich einen schweren Schnitzer – ausgerechnet deshalb, weil in »Interstellar« die Relativität von Zeit eine zentrale Rolle spielt. Ausgerechnet auch deshalb, weil Nolan die Relativität von Zeit gerne zum Thema macht, wie sein ungleich genialerer Film »Inception« eindrucksvoll zeigt.

In »Interstellar« werden drei Astronauten auf einen Erkundungsflug durch ein Wurmloch in eine weit entfernte Galaxie geschickt. Die Erde steht vor dem Hungertod, nichts wächst mehr, alles wird vom Staub erstickt. Die Menschheit braucht eine neue Heimat. Auf einem der infrage kommenden Planeten gibt es ein kleines Problem: Der Planet befindet sich in der Nähe eines Schwarzen Lochs, und zwar so nahe, dass die Zeitdehnung an seinem Rand auch den Planeten erfasst. Die Folge: Während auf dem Planeten eine Stunde vergeht, vergehen in dem in sicherer Entfernung parkenden Mutterschiff (und auch auf der Erde) sieben Jahre. Zwei der Astronauten müssen hinunter auf den Planeten, um wichtige Informationen zu bergen, die eine Vorgängermission zurückgelassen hat.

Für diese Idee bekommt Nolan ein Sondersternchen. Selten gab es eine Sequenz eines Films, wo die Zeit mehr gedrängt hat. Doch leider vermasselt er die Sache. Natürlich geht auf dem Planeten etwas schief, die Astronauten können sich gerade noch in ihr Landungsboot retten.
Was wäre nun die logische Konsequenz aus dieser Zeitdehnung? Dass sie die Ärsche (pardon) unverzüglich zurück ins Mutterschiff bewegen, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren.
Bevor Sie den Taschenrechner holen: Jede Sekunde Verzögerung bedeutet siebzehn Stunden Zeitverlust – für den im Mutterschiff wartenden Kollegen und vor allem für die auf Rettung wartende Menschheit.
Was aber tun die Astronauten im Landungsboot? Sie streiten und schwafeln unnötig und endlos in der Gegend herum, alles in allem haben sie keinen Grund, ihre Ärsche (pardon) nicht zu bewegen. Aber anscheinend brauchte Nolan diese Verzögerung. Und aus Charakteren werden für diese Minuten Marionetten des Regisseurs, deren Fäden man sieht.

»Interstellar« zeigt uns dankenswerterweise noch einen weiteren Fehler beim Timing und dem Umgang mit der Zeit. Den Astronauten und den Zuschauern ist eins klar: Die Zeit drängt, da die Menschheit im Sterben liegt. Leider hat Regisseur dieses unbedeutende Problemchen vor lauter Weltraumwumms und Wurmlochgehopse verdrängt. Denn in den Zwischenszenen auf der Erde ändert sich … nichts. Eins schon: Die Kinder des Protagonisten, des Astronauten Cooper werden älter. Zwanzig, dreißig Jahre, während für Cooper nur Wochen vergehen oder er Zeit im Tiefschlaf alterslos überwindet. Die Umstände auf der Erde aber bleiben exakt dieselben: alles voller Staub, die Menschen können sich kaum noch ernähren. Keine Verschlimmerung der Lage! Die zuvor so oft beschworene Eile wird damit unglaubhaft, weil offenbar unnötig.

Timing beim Schreiben: Was Sie in Ihrem Roman tun können, um Fehler beim Timing und bei der Zeit zu vermeiden

Was können Sie daraus lernen? Wenn Sie den Ablauf von Zeit behaupten, dann zeigen Sie ihn Ihren Lesern gefälligst auch. Noch wichtiger: Wenn Sie behaupten, die Zeit dränge (siehe auch »Der Code« weiter oben), dann zeigen Sie diese Bedrängnis dem Leser, machen Sie sie ihm glaubhaft, überzeugen Sie ihn davon. Sonst klappt er Ihren Roman zu (falls er nicht zu impulsiv ist und Schlimmeres damit anstellt) und liest lieber einen anderen.

Solche logischen Fehler nicht nur der Zeit zu vermeiden, ist auch eine Respektbezeugung gegenüber dem Leser. Weil der im Umkehrschluss nämlich annehmen muss: He, der Autor versucht wohl, mich für dumm zu verkaufen.

Das Tückische aber an diesen Fehlern der Zeit: Sie sind vom Autor selbst nur schwer zu entdecken. Helfen kann ein Zeitstrahl, selbst gezeichnet oder per Software. So bietet die aktuelle Version von Papyrus Autor einen solchen Zeitstrahl an; ausprobiert habe ich ihn noch nicht.

Sobald Ihr Roman mehrere parallele Erzählstränge hat, sollten Sie ein Auge auf den Ablauf der Zeit haben. Aber auch innerhalb eines Strangs kann Ihnen die Zeit leicht aus dem Ruder laufen. Wenn etwa die Woche auf einmal acht Tage hat oder Ihre Heldin an einem Tag mehr erledigen muss, als selbst in drei Tage hineinpassen. Gerade im Eifer des Gefechts verliert man als Autor da schnell mal den Überblick.

Extra-Tipp: Achten Sie auch ganz genau auf die Länge von Gedanken während Actionszenen. Wenn Ihr Protagonist in einem Handgemenge steckt, wird er zwischen zwei rasch aufeinanderfolgenden Faustschlägen keine fünf Sätze denken können.

Wichtig ist mir hier, dass Sie das Problem mit Zeit und Timing ernstnehmen. Denn wenn Sie da Fehler wie in den Beispielen hier drin haben, können die für viele Leser den ganzen Roman ruinieren.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014


??? Meine Frage an Sie: Auf welche Probleme stoßen Sie beim Timing? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂


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Timing im Griff? Vergessen Sie nicht: Veröffentlichen beginnt schon beim Schreiben:


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