Entdecken Sie das Geheimrezept zur Überraschung Ihrer Leser

Was erwarten Sie von diesen Pelikanen?
Was erwarten Sie von diesen Pelikanen? Dass sie wegfliegen. Was aber, wenn einer auf Sie zugewatschelt käme?

Das Geheimrezept für Lesererwartungen – und wie Sie sie brechen

Das Geheimrezept für die Arbeit mit den Erwartungen des Lesers ist eine Sequenz aus vier Schritten:

Lesererwartungen brechen: Eine Sequenz aus vier Schritten

1. Erwartungen von Lesern erkennen.

Das Genre gibt über viele davon Auskunft. Etwa die Erwartung von Thrill bei Thrillern oder die von erotischer Spannung von Romanzen. Dazu kommen allgemeingültige für die meisten Romane oder für jedes Genre. Das kann die Erwartung sein, überrascht zu werden oder einer falschen Fährte aufzusitzen. Oder die Erwartung, dass überhaupt Emotionen angesprochen, dass man als Leser auf die ein oder andere Weise berührt wird. Erwartungen, in dem Buch etwas dazuzulernen – vor allem etwas über sich selbst und über sein eigenes Leben.

2. Erwartungen der Leser wecken.

Haben Sie die Erwartungen für Ihren Roman identifiziert, können Sie sich gezielt daran machen, diese Erwartungen anzusprechen, sie zu wecken. Durch Andeutungen, Vorausdeutungen, Hinweise, durch erste Spannungsmomente, die größere Spannung versprechen, durch einen ersten erotischen Funken, der ein erotisches Feuerwerk verspricht.
Richtig erkannt: Erwartungen wecken hat viel mit Versprechungen an den Leser zu tun. (Mehr über Versprechen und Erwartungen lesen Sie hier: 6 Möglichkeiten, einen Zwerg abzumurksen und Ihr Versprechen an die Leser zu halten)

3. Erwartungen der Leser brechen.

Mittels Ihrer Vorbereitungen, mittels der vielen eskalierenden Momente bereiten Sie den Leser auf ein bestimmtes Ergebnis vor. Das Sie dann aber nicht stattfinden lassen.
Heißt das denn zugleich, das Versprechen an Ihre Leser zu brechen? Nein. Wegen des nächsten Schritts, den Sie natürlich nicht weglassen dürfen.

4. Übererfüllen der Leser-Erwartungen

Statt das Ereignis eintreten zu lassen, passiert etwas anderes, was dem Leser noch mehr Lesevergnügen bereitet als das Ereignis, das nicht stattgefunden hat. Das Übererfüllen von Erwartungen kann in vielen Fällen heißen: verschärfen eines bestehenden oder etablieren eines neuen Konflikts.

Lesererwartungen brechen – in der Praxis eines Bestsellers

Sehen wir uns an, wie das Luca di Fulvio in seinem Weltbestseller „Der Junge, der Träume schenkte“ (Bastei-Lübbe 2011) gemacht hat.

Der Leser erwartet, dass Cetta mit Andrew schläft. Der Autor hat diese Erwartung geweckt: durch die Küsse. Sie schläft nicht mit ihm. Damit bricht der Autor die Erwartung. Die Hürde scheint zumal klein, da Cetta als Prostituierte arbeitet. Durch die Ablehnung aber steigert der Autor die Spannung, die erotische Suspense – und übererfüllt die Erwartungen für diese Stelle. Nach dem Sex wäre die Spannung weg. Ein Grund übrigens, wieso so viele Fernsehserien ihre Helden unter erotische Dauerhochspannung setzen, oft über Dutzende, vielleicht Hunderte von Folgen.
Serien aus den vergleichweise prüden Siebzigern und frühen Achtzigern wie »Wer ist hier der Boss?« oder »Remington Steel« oder »Agentin mit Herz« (ja, so alt bin ich schon) haben ihren Erfolg vor allem dieser unerfüllten erotischen Spannung zu verdanken. Bei »Wer ist hier der Boss?« dauert es für die Zuschauer sieben Jahre oder 173 Folgen, bis Angela und Tony einander ihre Liebe gestehen. Danach konnte die Serie nur noch 23 Folgen länger durchhalten – gerade mal eine einzige Staffel, die achte und letzte. Der Reiz war weg, denn die Erwartungen waren erfüllt.

Zurück zu di Fulvios Roman. In dem Beispiel oben geht es weiter mit dem Wecken, dem Brechen, dem Übererfüllen von Erwartungen:
* Erwartung: Sie sehen sich nicht wieder. – Das tun sie. Jedoch im Bordell.
* Erwartung: Sie haben keinen Sex. – Den haben sie. Aber lieblosen Hurensex. Was ihre Beziehung konfliktreicher macht.
* Erwartung: Das war’s dann endgültig. – Aber Andrew kommt wieder. Schön, oder? Nein. Denn Andrew ist verheiratet.

Sie sehen, wenn Sie einen Roman schreiben, arbeiten Sie auch auf Mikroebene dauernd mit Erwartungen. Wenn Sie einfach drauflosschreiben, ist die Gefahr groß, dass Sie nichts weiter tun, als Erwartungen zu erfüllen. Denn das scheint der natürliche Lauf der Dinge.



Erwartungen der Leser brechen: Meine Empfehlungen

Meine Empfehlung bei den kleineren Erwartungssequenzen:
Treten Sie während des Schreibens immer mal wieder von Ihrem Text zurück und überprüfen Sie die Erwartungen und Ihren Umgang damit. Nach dem Schreiben empfehle ich einen eigenen Überarbeitungsdurchgang nur für Erwartungen. Erst durch sie halten Sie die Spannung permanent hoch, beseitigen Klischees und überraschen den Leser wieder und wieder.

Meine Empfehlung bei den größeren Erwartungssequenzen:
Manche Erwartungen betreffen den kompletten Roman, etwa eine Erwartung über den Showdown. Diese sind zu wichtig, um sie dem Zufall zu überlassen. Zumal Sie den ganzen Roman damit zubringen, solche Erwartungen zu wecken, sie aufzubauen, um sie am Ende zu brechen und überzuerfüllen. Solche Erwartungen beeinflussen den Roman an jeder Ecke. Also sollten Sie sie planen, bevor Sie losschreiben. Was nicht heißt, dass Sie sich nicht während des Schreibens selbst überraschen können: mit einer noch besseren Idee für den Höhepunkt.

Ja, auch sich selbst als Autor dürfen und sollten Sie überraschen. Und dann das erwartete und von Ihnen geplante Ende durch ein noch stärkeres ersetzen. Schließlich ist der wichtigste Leser Ihres Romans niemand anderes als Sie selbst.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

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