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Eier in der Waschmaschine und die Macht der Verantwortung

Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit? An den Tag, als Sie an dem alten Fabrikgebäude mit ihren Freunden zusammen die trüben Fensterscheiben eingeworfen haben? Oder an jenen verhängnisvollen Abend, als Sie, um Ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, auch die drei mit Hühnerkot verschmierten Eier in die Waschmaschine zur Dreckwäsche legten?

Sie waren ein Kind. Diese Taten hatten keine schlimmen Konsequenzen. Warum nicht? Was bedeutet erwachsen werden? Was müssen Kinder lernen und was macht die Pubertät so schwierig?

Verantwortung.

Auch in Romanen ist Verantwortung ein Thema. Und zwar in jedem. Ohne Ausnahme. Wie der Autor mit dem Thema umgeht, zeigt auch, wie reif der Roman oder wie reif sein Verfasser als Autor ist.

Viele unreife Romane, nach meiner Erfahrung deutlich mehr als die Hälfte, fallen dadurch unangenehm auf, dass der Held oder die Protagonistin eben keine Verantwortung übernimmt. Nicht für die eigenen Taten und häufig nicht einmal für das eigene Leben.

Kann Ihnen nicht passieren? Sind Sie sicher?
Wer ein wenig mit Wahrscheinlichkeiten umgehen kann (was leider nicht vielen gegeben ist), wird erkennen: Wahrscheinlich gehört auch er oder sie selbst zu den Autoren, die schon mal einen solchen Roman mit einer Hauptfigur schreiben, die keine Verantwortung übernimmt.

Wie erkennen Sie (zu) passive Charaktere?

Ein Indiz dafür sind Charaktere, die passiv bleiben. Diese Passivität kann sich in vielerlei ausdrücken:

* Ein passiver Charakter reagiert mehr, als er agiert.
* Ein passiver Charakter lässt andere die Arbeit erledigen, etwa Informationen sammeln oder den Schurken erschießen.
* Eine passive »Heldin« lässt sich retten, statt andere zu retten. Damit aber kann sie nie zur Heldin werden.
* Ein passiver »Protagonist« hat kein Ziel oder ihm fehlt der Antrieb, ein Ziel zu erreichen. Damit aber kann er nie zum Protagonisten werden.

Warum wir häufig zu passive Figuren schaffen

Über die Gründe habe ich an anderer Stelle schon geschrieben. Sie liegen vor allem darin begründet, dass Passivität Normal- und Dauerzustand der meisten von uns ist. Wann sind Sie das letzte Mal etwas angegangen, was Ihr Leben verändert hat?
Passivität wirkt daher realistisch: Die Dinge geschehen um uns herum, und wir reagieren darauf. Für einen Roman aber ist das zu wenig. Oder würde jemand einen Roman über Ihr Leben schreiben, mit Ihnen als Protagonist oder Heldin? Warum nicht? Zeit, Ihr Leben zu ändern? Muss nicht sein. Schreiben Sie stattdessen einen Roman mit einer hoch aktiven Hautfigur.

Die Folgen der Passivität der Hauptfigur sind mehr als gravierend. Sie töten Ihren Roman. Wiederbelebung möglich, aber nur durch eine komplette Neufassung.
Im Ernst? Leider ja. (Ausnahme: Schlupflöcher im literarischen Gesetz)
Denn den meisten (zu) passiven Charakteren fehlt ein Ziel, das sie (unbedingt) erreichen wollen. Dieses Ziel aber definiert den Roman. Fällt es weg, fällt auch die Grundlage für den Plot weg.
Machen Sie sich nun daran, diesen Knackpunkt zu beheben, stellen Sie schnell fest, dass ein Protagonist, der diese Bezeichnung auch verdient, in vielen Fällen Ihren Roman in eine ganz andere Richtung lenken will als in Ihrer ersten Fassung.

Es lohnt sich also nicht nur, diese Passivität gleich beim ersten Entwurf zu beseitigen. Es spart Ihnen Monate, wenn nicht Jahre an Arbeit und Berge von Frust. Ganz davon zu schweigen, dass es auch Ihre Chancen, mit dem Roman einen Verlag oder viele Leser zu finden, exponentiell erhöht.

Was bedeutet Verantwortung im Roman?

Kommen wir zurück zur Verantwortung. Was bedeutet Verantwortung in vielen Geschichten? Einen starken Antrieb für die Hauptfigur, den Hintern hoch zu kriegen und in die Puschen zu kommen.

Das kann direkter geschehen. Wie bei Frodo in »Der Herr der Ringe«. Würde Frodo sich nicht verantwortlich für die Zukunft des Auenlandes fühlen, würde er sich nicht anbieten, den einen Ring nach Mordor zum Schicksalsberg zu bringen.

Verantwortung und schuld sind zwei Seiten einer Medaille. Das heißt, der Charakter handelt, um Schuld abzutragen – aber schuldig kann sich nur der fühlen, der sich auch verantwortlich fühlt.

Das kann auch indirekter geschehen. Nehmen wir Luke Skywalker in »Krieg der Sterne«. Zwar sind die Botschaft von Prinzession Leia und die anschließendenen Enthüllungen von Obi-Wan Kenobi der Hintergrund dafür, dass Luke seinen Heimatplaneten verlässt, um sich letztlich den Rebellen anzuschließen und gegen das Imperium zu kämpfen. Doch auch Schuld und somit Verantwortung spielen eine zentrale Rolle.
Der eigentliche Auslöser für Lukes Entscheidung ist die Ermordung seiner Pflegeeltern, seines Onkels und seiner Tante. Würde Luke sich für ihren Tod nicht zumindest mitverantwortlich fühlen – und für die Vergeltung dieses Todes! –, würde er seine Heimat nicht verlassen. Es sei denn, der Anblick von Leias Hologramm allein hätte ihn überzeugt …

Im Umkehrschluss erkennen Sie hier, wozu das Abweisen von Verantwortung führt: zu passiven Charakteren, die nicht in der Lage sind, die Geschichte voranzutreiben. Und damit letztlich zum Tod des Romans.

Der Zusammenhang von Verantwortung, Schuld und Konsequenzen

Gut ist es, wenn Verantwortung / Schuld und die Konsequenzen in einem passenden Zusammenhang stehen. Wer einen großen Fehler begeht, hat häufig auch mit entsprechend großen Konsequenzen zu kämpfen. Das erscheint einsichtig: Wenn ein Charakter Ihres Romans einen Mord begeht, wird er dafür entsprechend schlimme Konsequenzen ertragen müssen. Wenn demselben Charakter in der Küche ein billiges Glas auf die Fliesen fällt und zerbricht, ärgert er sich als Konsequenz nur einen Moment lang, beseitigt die Scherben und vergisst die Sache sofort wieder.

Wie so oft aber ist in einem Roman gut meistens nur die suboptimale Lösung. Sie aber wollen mehr, stimmt’s?

Kriegen Sie.

Unangemessene Konsequenzen

Sehen wir uns mal den Roman »The Breakers« an, eine durchaus spannende Trilogie von Edward W. Robertson um eine weltweite Seuche und Aliens (den es übrigens dauerhaft für 0 Euro als E-Book gibt http://j.mp/1oxJnWy).

Im zweiten Band verrät Protagonist Ness die beiden brutalen Diktatoren einer kleinen Kolonie Überlebender, Daniel und Roane, an die Aliens. Angeblich wären die beiden verantwortlich (sic!) für den Tod einiger der Alien-Artgenossen. Ness hofft, dass die Aliens die beiden beseitigen und damit die Kolonie befreien. So, wie Ness sich das vorstellt, sind Verantwortung und Konsequenzen ausgeglichen. Ness meint, diese beiden Tötungen verantworten zu können.

Es kommt anders. Die Aliens teilen Ness mit, dass sie Daniel und Roane töten werden – indem sie den Reaktor, in dessen Nähe die Kolonisten leben, zur Kernschmelze bringen. Sämtliche zwei-, dreihundert Kolonisten würden sterben!
Eine spannende Variante, die eine Menge Suspense erzeugt.

Es geht auch andersherum. Manchmal ist es für den Roman besser, weil für den Leser befriedigender, wenn Sie einer schlimmen Tat eine unangemessen kleine Konsequenz folgen lassen.
Nehmen wir das Beispiel oben mit dem Mord. Der Charakter tötet einen Menschen. Der Leser erwartet eine entstprechend schlimme Bestrafung. Doch, Überraschung, die Konsequenz bleibt aus.
Machen wir eine Szene daraus. Der Mörder hat die Leiche im Kofferraum. Er kommt in eine Alkoholkontrolle. Hochspannung! Aber der Polizist schöpft keinen Verdacht und der Mörder kommt mit nichts als einer freundlichen Ermahnung davon. Endgültig.
Entsetzen bei den Lesern – und später dann auch Freude. Denn je nachdem, wie der Leser den Mörder beurteilt, können Sie mit einer solchen Maßnahme ein starkes Gefühl der Ungerechtigkeit im Leser erzeugen. Und genau darauf sind Sie aus: starke Gefühle. Der Leser will noch mehr als zuvor, dass der Mörder gefasst wird.
Sie brauchen ihn nicht zu enttäuschen. Vielleicht bringen Sie den Mörder am Ende dann doch noch lebenslänglich hinter Gitter – für einen Mord, den er gar nicht begangen hat. Womit Sie ein zweites Mal eine unangemessene Konsequenz gewählt hätten.
Na, kommen Sie auf den Geschmack?

Denken Sie auch bei Verantwortung, Schuld und Konsequenzen an die Wirkung von Kontrasten: Sie fördern Konflikte. Am Himmel entsteht Hochspannung, wenn extrem unterschiedliche Luftdrücke und damit unterschiedlich geladene Teilchen aufeinanderprallen.
Lassen Sie auch in Ihrem Roman ein Gewitter auf Ihre Leser heruntergehen, indem Sie etwa dafür sorgen, dass Verantwortung und Konsequenzen in einem starken Missverhältnis stehen.

Vielleicht herzt die Mutter die Tochter ja, weil sie die Eier in die Waschmaschine getan hat. Unangemessen. Oder der kindliche Scheibeneinschmeißer wird von einer Bande Verbrecher, die sich in dem Gebäude verstecken, gefasst und getötet. Unangemessen. Aber interessanter als die Variante, angemessene Konsequenzen (ein bisschen Schimpfe und drei Tage offline) folgen zu lassen.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014


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??? Meine Frage an Sie: Wie gehen Sie mit Passivität und Verantwortung in Ihren Geschichten um? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂


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