6 Möglichkeiten, einen Zwerg abzumurksen und Ihr Versprechen an die Leser zu halten

Was wollen Leser von Romanen?

Der Artikel über die Schreibtipps von Stephen-King-Lesern geht in die dritte Runde. Bisher erschienen: 4 todsichere Möglichkeiten, ihren Roman zu verbessern: Schreiben wie Stephen King und »3 zentrale Aspekte, um Ihren Roman zu verbessern – Schreiben lernen mit Stephen Kings ›The Green Mile‹« .

Was wollen Leser von Romanen? Es geht hier nicht darum, Lesern nach dem Mund zu schreiben. Es geht auch nicht darum, Erwartungen zu bedienen. Aber um packende Romane zu schreiben, müssen Sie die Erwartungen von Lesern zumindest kennen. Nur dann können Sie Leser überraschen, Erwartungen übererfüllen, rote Heringe und falsche Fährten auslegen, Emotionen beeinflussen und vieles mehr.

Natürlich spielen Lesererwartungen auch bei der Verkäuflichkeit Ihres Romanprojekts eine Rolle, egal, ob Sie es einer Agentur oder einem Verlag anbieten oder übers Selfpublishing direkt an die Leser gehen.

Das Genre bestimmt die Erwartungen Ihrer Leser — und Ihre Versprechen an sie

Wichtiger als alles andere bei den Erwartungen der Leser ist das Genre Ihres Romans. Erwartungen haben die Leser. Der Gegenpart für Sie als Autor sind die Versprechen, die Sie Ihren Lesern machen – und die Sie besser einhalten, wenn Sie Leser zufrieden machen und Bücher verkaufen wollen.
Das Genre ist ein vielgestaltiges Versprechen. Wenn Sie einen Thriller schreiben, versprechen Sie dem Leser Thrill. Wenn Sie Fantasy schreiben, versprechen Sie exotische Welten und phantastische Schauplätze. Wenn Sie das nicht (in ausreichendem Maße) liefern, sind Sie Ihre Leser schneller los, als Sie Flop sagen können. Oder wie reagieren Sie, wenn man Ihnen gegenüber ein Versprechen bricht?

Zu den Erwartungen der Leser gehört es auch, dass der Autor sich an funktionierende Grundmuster des Erzählens hält. Auch das ist ein Versprechen, das Sie geben, wenn Sie vorne »Roman« auf Ihr Buch drucken lassen. Wenn Sie dagegen den Höhepunkt auf Seite 125 bringen und die Lage Ihres Protagonisten auf den restlichen 375 Seiten immer weiter entspannen, brechen Sie auf unschöne Weise die Erwartungen, hier die Erwartung einer sich zuspitzenden Geschichte mit einem Spannungsbogen.
Wenn Sie einen Charakter umfassend aufbauen, seine Vergangenheit ausführlich beleuchten und ihn dann nach drei Seiten aus der Geschichte befördern, brechen Sie ebenfalls ein Versprechen.
Jedes Wort in Ihrem Roman ist ein Versprechen. Je mehr Wörter Sie einem Schauplatz, einem Charakter, einem Konflikt widmen, mit desto mehr Nachdruck versprechen Sie, dass diese Dinge für Ihren Roman eine Rolle spielen.

Das ist kein triviales Problem. Im Gegenteil. Dieses Missverhältnis zwischen investierten Wörtern (für den Leser: Lesezeit, Hirnschmalz, Emotionen) und der Bedeutung dieser Wörter für die Geschichte ist einer der zentralen Punkte, die den Amateur vom Profi trennen.
Mir begegnet dieses Missverhältnis in Roman-Erstlingen andauernd. Da wird aufs Papier geklatscht, was dem Autor gerade einfällt, und wenn ihm zu einer Nebenfigur eine Menge einfällt, dann schreibt er das eben hin. Alles. Oder eine Autorin verliebt sich in einen Schauplatz. Das merkt man dann. Da wird beschrieben und beschrieben und dem Leser die Historie des Schauplatzes nahegebracht. Der Held steht da einen Nebensatz lang rum, bohrt sich kurz in der Nase, ruft ein Taxi und verlässt den Schauplatz für immer. Eine erkennbare Rolle spielt der Schauplatz nicht.

Sehen Sie sich die Faustregel »Kill your darlings« mal unter diesem Aspekt an, dem Aspekt von Leser-Erwartungen und Autoren-Versprechen. Macht auf einmal noch mehr Sinn, nicht wahr?

Ein übler Fall von gebrochenem Versprechen

Ein ganz übler und leider immer wieder auftauchender Fall von gebrochenen Versprechen ist der »Fall der abgemurksten Joggerin«. Sehr beliebt in Krimis und Thrillern, aber in vergleichbaren Varianten auch in historischen Romanen (»Der Fall des abgemurksten Tavernenbesuchers«) oder in Fantasy (»Der Fall des abgemurksten Zwergs«) anzutreffen.

Sie kennen das: Der Thriller-Autor führt eine Joggerin ein, Henriette, die frühmorgens durch einen nebligen Park läuft und ihren Gedanken nachhängt. Der Leser erfährt von ihrer problematischen Beziehung, vom kranken Vater und von den Konflikten im Job, wo sie gegen eine jüngere Kollegin um die Stelle als Teamleiterin kämpft. Nach drei Seiten glaubt der Leser, Henriette so gut zu kennen wie eine langjährige Freundin. Vor allem aber glaubt er, es mit der Protagonistin des Romans zu tun zu haben.
Auf der nächsten Seite wird Henriette abgemurkst. Ihre problematische Beziehung, der kranke Vater und der Streit um die Teamleiterstelle verschwinden mit unserer Joggerin für immer und ewig aus dem Roman.
Manche Autoren sind der Ansicht, eben diese ausführliche Einführung sei das Raffinierte hierbei. Sie wollen den Leser schließlich überraschen. Und das ist ihnen mit Henriettes Ermordung doch gelungen, oder?

Stimmt. Der Leser ist überrascht. Aber wie im richtigen Leben sind auch im Roman nicht alle Überraschungen willkommen.

Sehen Sie sich die Sache vonseiten des Lesers an. Er investiert in diese Joggerin. Warum tut er das? Weil er glaubt, sie sei wichtig für den Roman. Warum interessiert er sich für den kranken Vater und den Konkurrenzkampf in Henriettes Job? Weil er er glaubt, das sei wichtig für den weiteren Roman, wichtig auch, um den Roman zu verstehen.
Der Leser hat schon andere Romane gelesen. Er weiß unbewusst um das Versprechen, dass ein Autor ihm macht. Er erwartet auch von Ihnen, dass Sie Versprechungen machen – und sie einhalten.

Der Autor vertieft im Fall der Joggerin mit jedem der vielen Wörter sein Versprechen. Und er bricht es. Er dreht dem Leser eine Nase. Er sagt dem Leser: Ätsch, deine Gefühle und Gedanken kümmern mich nicht.
Und anschließend erwartet er vom Leser, dass der sich in der nächsten Szene der tatsächlichen Protagonistin mit demselben Urvertrauen nähert, sich für ihre Probleme im Polizeipräsidium interessiert, für ihre Ehe und die Sorgen mit dem kranken Kind.
Kann es sein, dass mancher Autor da ein bisschen zu viel von seinen Lesern erwartet, zu viel von ihnen verlangt?

Beispiele aus sehr erfolgreichen Romanen finden Sie in dem Facebook-Artikel hier und in den Kommentaren dazu:
Versprechen brechen

Denken Sie also daran, was Sie schreiben – genauso, wie Sie im Leben auch nicht leichtfertig Versprechungen machen.

Was können Sie nun tun, wenn Sie gerne einen Zwerg abmurksen würden?

1. Finden Sie die richtige Stelle fürs Abmurksen. Als erste Szene im Roman ist es womöglich weniger geeignet. Unproblematischer wird die Sache, wenn der Leser den Protagonisten bereits kennengelernt hat.

2. Finden Sie die geeignete Erzählperspektive fürs Abmurksen. Müssen Sie die Mordszene tatsächlich aus Sicht des Opfers, des armen Zwergs erzählen? Können Sie sie nicht ebenso gut oder besser aus Sicht des Mörders, des Antagonisten erzählen? Der ist schließlich weit wichtiger als eine unbedeutende Nebenfigur mit langem Bart und Spitzhacke. Das können Sie auch dann tun, wenn Sie die Identität des Mörders geheimhalten möchten.

3. Bauen Sie wichtige Details in die Szene mit dem abzumurksenden Zwerg ein. Vielleicht reißt er dem Mörder ein Stück Stoff aus seinem Wams. Vielleicht kann er den Lesern Hinweise geben. Vielleicht gibt es eine Verbindung zwischen Zwerg und Ihrem Protagonisten. Der könnte durch den Mord überhaupt erst auf den Antagonisten aufmerksam werden. Weil der Zwerg zum Beispiel der dritte Cousin seiner Tante väterlicherseits ist, die nun voller Sorge den zwergischen Detektiv anruft, den Sohn ihres Bruders.

4. Lassen Sie die Szene mehrere Aufgaben übernehmen. Sie könnte etwa den Schauplatz einführen, ein Städtchen mit Silberminen in den Bergen, wo es von Zwergen wimmelt.

5. Finden Sie die richtige Balance. Muss die Szene tatsächlich fünf Seiten lang sein (= ein sehr ernstes Versprechen)? Oder genügt auch eine halbe?

6. Denken Sie bei allem die Szene auch aus Lesersicht durch: Was erwartet der Leser? Wie können Sie ihn so überraschen, dass er die Überraschung als angenehm empfindet?

Fazit: Sie machen in einem Roman andauernd Versprechen. Strenggenommen mit jedem einzelnen Wort. Seien Sie sich dessen bewusst, dass Sie diese Versprechen halten müssen. Nicht unbedingt auf eine Weise, die der Leser erwartet. Aber auf eine Weise, die ihn glücklich macht und Ihren Roman für ihn zum Gewinn.

Demnächst mehr zu weiteren Anforderungen von Lesern an Ihren Roman. Vermutlich hat auch Stephen King wieder einen Gastauftritt.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014


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??? Meine Frage an Sie: Welche Versprechen haben Autoren Ihnen als Leser gegenüber schon gebrochen? Beispiele? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂


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