Warum Sie Midpoints und Wendepunkte nicht vernachlässigen sollten – im Roman und beim Schreiben jeder einzelnen Szene

Eine gut ausbalancierte Geschichte hat einen Mittelpunkt oder Midpoint. Dieser ist einer der wichtigsten Wendepunkte in einem (und hoffentlich auch in Ihrem) Roman. Aber nicht nur Romane als Ganzes brauchen einen Midpoint. Auch jede einzelne Szene wird durch ihn stärker. Dazu weiter unten mehr.


Wendepunkte: Funktion und Vorzüge des Midpoints im Roman


Klassische Beispiele von Ereignissen im Roman-Midpoint sind etwa die Enthüllung des Serienkillers. Während die Ermittler bis zum Midpoint die Identität des Killers herauszufinden suchten, machen sie danach gezielt Jagd auf ihn.
Wie vor jedem Wendepunkt wird auch der Midpoint von bedeutenden Ereignissen angestoßen. Das kann eine Katastrophe sein oder, wie im Beispiel, eine Enthüllung. Diese Ereignisse bewirken oder erzwingen eine Entscheidung des Protagonisten. Der eigentliche Midpoint ist eben diese Entscheidung.

Der Midpoint gibt, bei klassisch strukturierten Romanen, häufig auch das Ende vor. So hat eine Geschichte mit Happy End in den meisten Fällen einen positiven Midpoint. Ein Beispiel ist eine von Filmemachern (nicht wörtlich zu verstehende) »Sex at Sixty« genannte Szene. Beispielsweise küssen sich in einer solchen Szene Held und Heldin das erste Mal. Der Grundtenor des Midpoints ist, wie das Ende, positiv.
Das macht Sinn, wenn Sie sich das Auf und Ab im Bogen von Emotionen betrachten. (Der Spannungsbogen ist ein spezieller Emotionsbogen.) Denn als nächster großer Wendepunkt nach dem Midpoint kommt am Ende des zweiten Akts der Plotpoint 2. Vor diesem aber scheitert der Protagonist ein letztes Mal und durchschreitet die dunkelste Talsohle in der Geschichte (»All is lost«).
Die Emotionen sind im Midpoint also positiv, um danach vor dem Plotpoint 2 sehr negativ zu werden und schließlich, im Höhepunkt eines Happy Ends, auf einer sehr positiven Note zu enden.
Für den Leser das maximale Wechselbad der Gefühle!

Sollte Ihr Roman kein Happy End bekommen, wäre es sinnvoll, den Midpoint ebenfalls negativ zu halten und den Plotpoint 2 entsprechend positiv. Auch so schaffen Sie das Wechselbad der Gefühle, das der Leser sucht.

Bedenken Sie aber: Romane, die den Leser mit einem guten Gefühl entlassen, haben eine höhere Chance, weiterempfohlen zu werden. Hat mir erst vorgestern ein Literaturagent gesagt.


Wendepunkte: Der Midpoint als wichtiger Wendepunkt in jeder Szene Ihres Romans


Nicht nur ganze Filme oder komplette Romane werden durch einen Midpoint besser ausbalanciert und emotional erlebnisreicher. Auch auf Szenen-Ebene bewirkt ein Midpoint eine Menge – so viel, dass Sie keine Szene ohne einen Midpoint schreiben sollten.
Klingt logisch, oder? Schließlich ist auch jede gute Szene eine eigene Geschichte.

* Verleihen Sie einer Szene mit dem Midpoint ein Zentrum, eine Achse, um die sich die Szene dreht.
* Nutzen Sie den Midpoint dazu, Dinge tatsächlich umzukehren: Emotionen, Kräfteverhältnisse, Konflikte, Ziele, (Selbst-)Erkenntnisse, Informationen und alles, was Sie sich sonst vorstellen können.
* Deuten Sie das Ende einer Szene voraus – oder überraschen Sie den Leser mit einem unerwarteten Ende. Auf Szenen-Ebene können Sie hier viel mehr herumspielen als beim Midpoint des Romans.
* Geben Sie mit dem Midpoint der Szene einen neuen Schub Energie – und der Leser bleibt hellwach.

Klingt nach viel Arbeit. Das ist es. Die deutlich besseren Szenen, die Sie am Ende dastehen haben, sind diese Mehrarbeit allemal wert.


Wendepunkte: Dramaturgie und Spannung in den Szenen Ihres Romans


Eine Szene ganz ohne Wendepunkt verläuft dramaturgisch leider häufig so:
Die Spannung steigt bis zu einem Höhepunkt, der Rest der Szene ist abfallende Spannung, Dénouement, in vielen Fällen mit überflüssigem Gequatsche oder innerem Monolog zugemüllt.
Eine emotionale Reaktion des Protagonisten auf die dramatischen Ereignisse zu zeigen, ist häufig eine gute Idee. Wenn diese kurz ausfällt, kann sie das Ende einer spannenden Szene reicher machen. Sollte sie länger werden, ist es vermutlich eine gute Idee, die Reaktion erst in der nächsten Szene zu bringen.

Einem langsamen Spannungsabfall (stellen Sie sich das quälende Geräusch vor, das die Luft macht, wenn sie langsam aus einem Ballon gepresst wird) können Sie vorbeugen, indem Sie das Ende der Szene zu dem Punkt vorziehen, an dem die Spannungskurve ganz oben ist.


Wendepunkte: Ein anderer Wendepunkt in den Szenen Ihres Romans


In der einen oder anderen Szene funktioniert das. In der Mehrzahl der Szenen sollten Sie sich etwas Besseres überlegen – einen (weiteren) Wendepunkt.
Der Midpoint ist nämlich nicht der einzige Wendepunkt, der eine Szene stärker und spannender macht. Was Ihnen jeder Mörder bestätigen wird, der einmal mit Inspector Colombo zu tun hatte.

In diesem Video erleben wir Colombo in mehreren seiner berühmten »One more thing«-Szenen: Die Szene scheint beendet, die Akteure treten ab – aber Colombo erinnert sich noch an etwas und kommt zurück.

Diese Wendung, so einzigartig sie von Peter Falk alias Colombo auch dargeboten wird, findet sich in vielen Romanen. Häufig sehr zu deren Vorteil, wie folgende Grafik veranschaulicht. Statt einer Kurve stetig fallender Spannung bekommt die Szene einen neuen Dreh – und die Spannung lässt sich in zuvor nicht erreichbare Höhen steigern.

Wie das in einem Roman aussehen kann, zeigt beispielsweise der Thriller »Sterntaler« von Kristina Ohlsson (Blanvalet 2014). Darin endet eine (notwendige) Szene mit einer solchen Wendung:

Das Treffen war beendet, und Fredrika machte sich bereit zu gehen.
»Dieser neue Fall«, begann Margareta, als Fredrika schon in der Tür stand.
»Ja?«
»Ich erinnere mich, dass Alex die Ermittlungen leitete, als Rebecca Trolle verschwand.«
Fredrika sah sie unverwandt an.
»Er war wie besessen. Es war der letzte Fall, den er betreute, ehe er den Auftrag bekam, die Sonderermittlergruppe zu bilden, der Sie und Peder jetzt angehören. Es hat ihn schwer getroffen, dass wir das Mädchen damals nicht gefunden haben.«
»Und jetzt, da sie endlich aufgetaucht ist, haben Sie Angst, dass die Sache aus dem Ruder laufen könnte?«
»So in der Art.«
Fredrika zögerte, schloss die Hand um die Türklinke. »Ich werde ein Auge auf ihn haben«, versprach sie.

Eine wichtige Information, die wichtigste der Szene, wird, der dramatischen Zuspitzung gehorchend, erst ganz am Ende der Szene gebracht. Die Spannung, die schon abgeflaut war, erreicht den höchsten Punkt in der Szene.

Wie jedes Mal, wenn ein Erzählkniff weit verbreitet ist, lauern Gefahren. Eine Gefahr ist, wie so oft, die des Klischees.

Benutzen Sie eine solche Wendung, aber stellen Sie sicher …
* dass sie sich frisch anfühlt und nicht wie schon tausend Mal gelesen;
* dass sie sich organisch aus der Handlung und den Charakteren ergibt und nicht wie vom Autor aufgepropft wirkt (bei »Colombo« ergibt sie sich durch ihre Wiederholung vor allem aus dem Charakter);
* dass die Wendung tatsächlich etwas Neues und Wichtiges ergänzt und nicht zur Effekthascherei verkommt (»Ich mach das mal, weil es bei Colombo so cool ist.«);
* dass der Teil davor tatsächlich notwendig ist und Sie nicht die ganze Szene nur wegen der Wendung geschrieben haben und dem, was danach kommt.

Tätowieren Sie sich das Wort »wendungsreich« auf die Hand. Es ist eins der wichtigsten Atttribute, die Ihr Roman haben sollte.

Moment. Tätowieren Sie sich »wendungs-« auf die linke Hand und »reich« auf die rechte. Damit Sie beim Schreiben sehen, welches Attribut man Ihnen gibt, wenn Sie viele wendungsreiche Romane schreiben, wendungsreich bis hinein in jede einzelne Szene.

Danke fürs Lesen über Wendepunkte im Roman. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014


NEU***NEU***NEU

Schreibcamp: Emotionen – Die 29-Tage-Fitness für Ihren Roman (Arbeitsbuch)
EAN/ISBN: 9783847694397
Kindle E-Book | epub E-Book für alle Geräte | Im Buch blättern | Rezension bei Amazon verfassen | Fehler im Buch per Mail an den Autor melden
NEU***NEU***NEU



??? Meine Frage an Sie: Wie gehen Sie mit Wendepunkten in Szenen um? Kennen Sie, außer Colombo, noch andere gelungene Beispiele aus Literatur oder Film? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂


Ihnen hat der Artikel gefallen? Dann empfehlen Sie schrifzeit doch weiter oder verlinken Sie den Artikel: https://schriftzeit.de/archives/1989. Danke 🙂


Die Artikel des Blogs gibt es auch gedruckt oder als günstige E-Books für alle Reader und überall im Handel. Überarbeitet, zum Teil erheblich erweitert und noch praxisnäher. Daneben sind E-Books zu weiteren für Roman-Autorinnen und Roman-Autoren unverzichtbaren Themen erschienen.

Mehr Info: Meine Schreibratgeber für Ihren Roman


Schreibtipps aus Hollywood von Stephan Waldscheidt

Als kleines Dankeschön, exklusiv und kostenlos für Rezensenten gibt es jetzt den Schreib-Ratgeber „Schreibtipps aus Hollywood„. Mehr dazu hier …


Sie haben Fragen rund ums Schreiben von Romanen? Ich beantworte Sie Ihnen und Dir gerne. Einfach Mail an blog@waldscheidt.de.


Den Feed abonnieren: https://schriftzeit.de/feed.