Das Genre bestimmt die Erwartungen Ihrer Leser

Ein wunderbar poetischer Liebesroman

In dem wunderbar poetischen Liebesroman »Heading Out To Wonderful« ersteht das ländliche Amerika der später 1940er-Jahre aus den Seiten auf (Algonquin 2012; dt. »Ein wildes Herz«; eigene Übersetzung). Allein deshalb lohnt der Roman. Aber auch als Erzähler kann man sich hier und da noch etwas abschauen. An einer Stelle bedient Autor Robert Goolrick sich eines Kniffs, der mir auf den ersten Blick gegen eine fundamentale »Regel« beim Schreiben zu verstoßen schien.

In Kapitel 23 feiert Sam Haislett seinen sechsten Geburtstag. Sam ist eine Schlüsselfigur in der Affäre von Protagonist Charlie Beale und der verheirateten Sylvan. Das Kapitel beginnt mit einer Beschreibung des Settings und setzt sich dann mit einem historischen Rückblick der Dinge fort, die sich an diesem Tag, Sams sechstem Geburtstag, in der Welt ereignet haben.

Es war ein Donnerstag. Ein Feuer brach in der Mann-Schlucht in der Nähe von Helena, Montana, aus und hatte bis zum nächsten Tag dreizehn Menschen getötet. Montgomery Clift ans Olivia de Havilland waren auf dem Titel von Movie Story. Große Dinge geschahen. Kleine Dinge geschahen. Es war ein geschäftiger Tag auf dem Planeten und im Landkreis. Aber die Leute aus dieser Gegend sprechen bis heute aus einem simplen Grund über diesen Tag. Der 4. August 1949 war auch der Tag, in dem der sechsjährige Sam Haislett starb und mit einem Kuss von Charlie Beale zurück ins Leben geholt wurde.
Von diesem Tag an nannte jeder, der ihn kannte, und jeder, der ihn nicht kannte, Charlie Beale nur noch Beebo. Sie nannten ihn so, weil das das Erste war, was das Kind sagte, als es die Augen aufschlug, gerettet durch einen einzigen Kuss von Charlie Beale, wieder am Leben, nachdem der Arzt versagt hatte.

Wieso verstößt Autor Goolrick gegen die Regeln der Dramaturgie?

Die Logik des Spannungsbogens scheint es hier zu fordern, dem Leser nicht schon so bald in der Szene das eigentliche Ereignis, den Höhepunkt zu verraten: Wäre es nicht wesentlich spannender gewesen, wenn der Leser das alles chronologisch mitverfolgt hätte? Wenn er gesehen hätte, wie Sam vom Baum fällt und ins Wasser stürzt und vom Fluss mitgerissen und in die Tiefe gedrückt wird? Hätte der Leser die Szene nicht mehr genossen, wenn er hätte mitfiebern können, ob Sylvan den Jungen rettet? Wären die Emotionen nicht intensiver gewesen, wenn der Leser den Arzt den Kopf hätte schütteln sehen und wenn er dann hätte, live, miterleben dürfen, wie Charlie Sam mit Mund-zu-Mund ins Leben zurückholt?

Wir sind zu Beginn des Kapitels zu Beginn des letzten Drittels des Romans. Der Leser kennt die Charaktere, er weiß, worum es ihnen geht, worum sie kämpfen, was die Einsätze sind. Der Leser hat die Hauptpersonen ins Herz geschlossen, insbesondere Sam und Charlie.

Das Genre bestimmt die Dramaturgie mit

Das Genre eines Romans spielt für seine Dramaturgie eine entscheidende Rolle.
In einem Thriller, wo jede Szene ihren Thrill bietet und Leben auf dem Spiel stehen, wäre eine chronologische Schilderung womöglich besser gewesen. In der Szene geht es um Leben und Tod, von Anfang an weiß der Leser das, die Suspense liegt der Szene in der DNA.

»Heading Out To Wonderful« ist kein Thriller, sondern ein Liebesdrama. Nicht in jeder Szene geht es um Leben und Tod. Die – sehr ausführliche! – Schilderung von Sams Geburtstag wäre beim Leser, der sich an das Tempo und die Sprache und die Charaktere gewöhnt hat, durchaus genossen worden.
Aber eben *weil* das Buch kein Thriller ist, weil der Leser nicht um das Leben des Jungen gefürchtet hätte, bedient sich Goolrick dieses Kniffs und verrät das unerhörte Ereignis zu Beginn des Kapitels. Dadurch lädt er das komplette Kapitel mit Suspense auf, die sie sonst – anders als bei einem Thriller – nicht gehabt hätte!
In seinem Roman geht es mehr um das Wie als um das Was.


Natürlich wäre Sams Tod ein schockierendes und intensives Erlebnis für den Leser gewesen. Aber Autor Goolrick baut dem bewusst vor: Er setzt nicht auf Schock, er setzt seine Prioritäten anders. Er setzt auf Sorge und auf Mitgefühl. Und die hat er in den zweihundert Seiten bis dahin reichlich erschrieben.
Wichtig für die Dramaturgie ist eben auch, wo im Roman der Leser sich gerade befindet. Viel früher hätte diese Szene nicht kommen dürfen. Die Suspense wäre nie so intensiv gewesen, wenn der Leser Sam und Charlie und Sylvan noch nicht so lange gekannt hätte.
Hinzu kommt: Der Leser fragt sich nicht nur, was genau passiert ist. Sondern ihn interessiert vor allem, wie sich der Tod und das Wiederbeleben des Jungen auf die heimliche Liebesbeziehung zwischen Charlie und Sylvan auswirken.

Welche Dramaturgie erwarten Ihre Leser?

Welche Art von Roman schreiben Sie? Welches Genre? Davon hängen die Erwartungen Ihrer Leser ab und davon hängt auch ab, wie Sie den Leser das eindringlichste Erlebnis bescheren. Bevor Sie eine neue Szene schreiben, denken Sie auch immer darüber nach.
Ich habe heute eine Szene in meinem Work-In-Progress, einem Psychothriller, komplett gestrichen. Obwohl sie mir gefallen hat. Obwohl sie Konflikt hatte und unterhaltsam war und die Charaktere vertiefte. Aber sie hat einfach nicht in diese Art von Roman – genauer gesagt: in meine Interpretation davon – gepasst. Dazu war sie zu lustig und zu sexy und zu verspielt.
Und hier kommt der zweite, oben angesprochene Faktor ins Spiel: Was verlangt die Dramaturgie? Die von mir gestrichene Szene hätte weiter vorn besser hineingepasst. Aber in den zweiten Teil des zweiten Akts gehört sie nicht hinein. Weil sich nichts beschleunigt, nichts zuspitzt und, ganz wichtig, weil auch das Thema darin zu kurz kommt.

Wo liegen Ihre Prioritäten? Erlaubt die Dramaturgie die Szene an der Stelle, an der Sie sie schreiben möchten?

Eine kleine Gedankenspielerei zur Unterscheidung von eher literarischen und eher unterhaltsamen Romanen

Romane, die eher auf Unterhaltung setzen, betonen mehr die Ereignisse, den Plot, mehr das »Was?« – »Was passiert?«
Romane, die eher literarischer Art sind, betonen mehr die Details, die Charaktere und ihre Beziehungen, das Thema, die Sprache, mehr das »Wie?« – »Wie geschieht das, was geschieht?«

Was bedeutet das für Ihren Roman? Wenn Sie beschließen, einen sehr unterhaltsamen Roman ohne literarischen Anspruch zu schreiben, sollten Sie vor allem auf eins setzen: auf Handlung, auf außergewöhnliche Ereignisse, eine Menge davon, und einen spannenden Plot, also eine spannende Art, wie Sie die Ereignisse miteinander verknüpfen.
Wer sehr literarisch schreiben möchte, der … liest das hier sowieso nicht, sondern tut es einfach: auf das Wie setzen.

Die für meinen Geschmack besten Romane haben reichlich Wie und reichlich was.

Wie sieht Ihr idealer Roman aus? Worauf warten Sie noch? Schreiben Sie ihn!

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014