»Ich beschreibe Charaktere in Ausnahmesituationen, die Entscheidungen mit komplexen und tiegreifenden Folgen fällen. Also sehr menschliche Dinge, die jeder nachvollziehen kann.«
(Ken Follett, Bücher 6/2012)

Der Charme solcher Aussagen zum Schreiben eines Bestsellers liegt einerseits in der Wirkung, die sie auslösen: wissendes Kopfnicken der Autoren allerseits. Andererseits steckt in diesen so harmlos erscheinenden Sätzchen eine Menge Essenz. Von der wird leider außer dem Kopfnicken, die sie auslöst, für das eigene Schreiben wenig mitgenommen. Was nicht nur schade ist, sondern schlicht leichtfertig bis hin zu grob fahrlässig und, ja, selbstmörderisch.

Was heißt Folletts Statement konkret für den Roman, an dem Sie arbeiten?

Charaktere in Ausnahmesituationen

Allein darin stecken gleich mehrere wichtige Punkte für das Schreiben eines Romanbestsellers. Zunächst geht es um … Charaktere. Eben. Und nicht um Marionetten des Autors, die an (leider sehr sichtbaren) Fäden durch die Handlung geschleift werden. Selbst wenn Sie von der Geschichte ausgehen und nicht von Motiven der Figuren, sollten Sie sich die Zeit nehmen, sich erstens geeignete Rollen für Ihren Plot zu überlegen und diese zweitens zu lebendig wirkenden Charakteren weiterzuentwickeln.

Diese Charaktere nun werden in Ausnahmesituationen geworfen oder reiten sich selbst hinein. »Ausnahmesituation« sollte aber nicht automatisch mit »Spektakel« gleichgesetzt werden. Was eine Ausnahmesituation ist, hängt vom Charakter ab. Für einen trainierten Marathonläufer und passionierten Langstreckenwanderer mag ein Fußmarsch quer durch England ein Klacks sein – nicht aber für Couch-Kartoffel Harold Fry, der in »Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry« spontan zu einem Marsch durch England startet, um eine alte Freundin zu retten. Das Buch wurde ein internationaler Bestseller. Ganz ohne Spektakel, aber mit reichlich Ausnahmesituationen. Zumindes für Harold Fry – und damit auch für den Leser, der sich mit Harold identifiziert.

Wie sich eine Ausnahmesituation definiert, kommt auch auf das Genre an. Wenn Sie einen Thriller mit globaler Hetzjagd und Verschwörungstheorien zwischen NSA und Vatikan schreiben, erwarten die Leser eher ein Spektakel, als wenn Sie das Aufwachsen zweier Jungen in Afghanistan beobachten (»Drachenläufer« von Khaled Hosseini, noch so ein internationaler Bestseller ohne spektakuläre Ausnahmesituationen).

Mit den Ausnahmesituationen ist nicht nur eine Ausgangskonstellation für den Roman gemeint. Oder nur eine bestimmte Szene. Die Charaktere sollten sich vom auslösenden Ereignis an permanent in einer Ausnahmesituation finden – und der Leser soll das spüren.
Das bedeutet zum Beispiel, dass Tina auch beim Einkaufen im selben Supermarkt, den sie schon seit zehn Jahren fast täglich aufsucht, in einer Ausnahmesituation ist – denn nur dann erzählen Sie diese Szene überhaupt. Das zeigen Sie dem Leser etwa dadurch, dass Tina sich im Supermarkt beobachtet fühlt, weil sie seit einiger Zeit bedrohliche Mails eines Unbekannten erhält. Wenn sie später nach Hause kommt, ruft sie ihre Freundin an. Weil die aber nicht da ist, spricht sie kurz mit dem Mann der Freundin. Wie sie es schon etliche Male getan hat. Aber bei dem Telefonat in Ihrem Roman stellt sie sich währenddessen die Frage, ob die Mails von diesem Mann kommen könnten.

Entscheidungen fällen

Ein guter Roman zwingt seine Charaktere permanent zu Entscheidungen, von relativ unwichtigen bis hin zu solchen, an denen das Leben der ganzen Menschheit hängt. Mit Entscheidungen gehen Sie so nah an die Essenz Ihrer Charaktere wie mit nichts sonst.
Welche Entscheidung Klaus trifft, als seine Tochter entführt wurde und man ihn auffordert, die Polizei aus dem Spiel zu lassen, diese Entscheidung definiert Klaus und sie gibt die Richtung für den Roman vor. Nicht von ungefähr sind die wichtigsten Entscheidungen zugleich die wichtigsten Wendepunkte in einem Roman. »Ich werde die Polizei nicht einschalten, sondern meine Tochter selbst befreien«, könnte so eine zentrale Entscheidung sein.

Entscheidungen sorgen auch für den Fluss der Handlung. Umgekehrt zwingt die Handlung die Charaktere dazu, wieder und wieder Entscheidungen zu treffen: Soll ich mich mit den Kidnappern treffen? Soll ich mir eine Pistole besorgen? Soll ich den gefangenen Entführer foltern, um herauszufinden, wo er meine Tochter versteckt hat oder soll ich es mit Bitten versuchen oder mit dem Versprechen von Geld?

Entscheidungen mit komplexen Folgen

Auch das ist ein ganz wichtiger, um nicht zu sagen: entscheidender, Punkt beim Schreiben eines Romans. Lassen Sie Ihre Charaktere Entscheidungen treffen, die komplexe Folgen haben, denn Komplexität heißt: eine verzwickte, nicht sofort auflösbare Situation.
Ließe sich die Lage relativ einfach klären, hätten Sie keinen Roman. Aber sind erst einmal die Polizei in die Entführung involviert, ein schießwütiger Privatdetektiv und die russische Mafia sowie eine Gruppe Freundinnen der Entführten, die auf eigene Faust … Dann haben Sie schnell etwas, was der Amerikaner so schön mit »Clusterfuck« bezeichnet, ein Tohuwabohu, bei dem sich der Protagonist mit jeder weiteren Entscheidung nur noch tiefer in den Schlamassel begibt.

Komplexe Folgen müssen aber kein wie oben beschriebenes Durcheinander bedeuten. Die Folgen können auch als ein Tohuwabohu aus inneren Konflikten im Protagonisten auftreten.
Was zählt: Sorgen Sie dafür, dass es spätestens ab dem ersten Plotpoint am Ende des ersten Akts keinen einfachen Ausweg mehr für Ihren Protagonisten gibt.

Entscheidungen mit tiegreifenden Folgen

Tiefgreifende Folgen bezeichnen die Einsätze der Charaktere: Was steht für jeden von ihnen auf dem Spiel? Was passiert, wenn sie scheitern? In einem Roman sollten die Einsätze immer hoch sein, im Idealfall steht das »Überleben« auf dem Spiel. Das kann ganz grundlegend ein physisches Überleben des Protagonisten sein. Wenn er versagt, wird er erschossen.
Das kann ein psychologisches Sterben sein, etwa, wenn das Scheitern den Verlust der Familie bedeutet, weil die sich von der Protagonistin abwendet – falls sie nicht beweisen kann, dass sie nicht schuld ist am Tod des kleinen Mädchens.
Oder aber es ist ein professionelles Scheitern: das Versagen eines Arztes bei einer schwierigen Operation. Oder das Versagen einer Sozialarbeiterin oder Pastorin, die es nicht schafft, den kaputten jungen Mann zurück auf den Pfad der Tugend zu führen.

Menschliche Dinge

Ken Follett spricht hier einen der wichtigsten Punkte an: Um ein Erfolg zu werden, muss ein Roman an etwas rühren, das zutiefst menschlich ist. Das sehen Sie gerade an den Beispielen, in denen nicht-menschliche Figuren die Hauptrolle spielen. Nehmen Sie »E.T. – Der Außerirdische«. In diesem Film kommt dem Zuschauer der Außerirdische nicht durch seine Extravaganzen nahe. Sondern dadurch, dass er Dinge tut, Gefühle empfindet, die zutiefst menschlich sind. Denken Sie an E.T.s Heimweh (»Nach Hause telefonieren!«). Dito (für die etwas Jüngeren) ein Film wie »WALL-E« und überhaupt alle Geschichten mit einem nicht-menschlichen Protagonisten.

Je mehr Ihr Roman fremde Welten ergründet, je stärker er an die Grenzen menschlicher Erfahrungen und menschlicher Phantasie geht, desto wichtiger wird es, auch den menschlichen Aspekt darzustellen.
Ja, vielleicht wäre es authentischer, wenn die beiden in Ihrem Fantasy-Roman vorkommenden Rassen der Xclo und der Ycla komplett anders ticken als Menschen. Aber der Leser braucht den menschlichen Aspekt, um eine Verbindung zu Ihren Charakteren aufbauen zu können. Das muss nicht viel sein. Aber da sein muss es.

Dinge, die jeder nachvollziehen kann

Eng verwandt mit dem letzten Punkt, »menschliche Dinge«, sind die Dinge, die jeder Leser nachvollziehen kann. Es ist eine Spezifizierung. Denn nicht alles, was menschlich ist, kann auch (von der Mehrheit zumindest) nachvollzogen werden. Nehmen Sie wahnsinnige Serienkiller, die im Blut ihrer Opfer baden und sich ihre Nieren als Schmuck an die Ohrläppchen tackern. Das alles ist menschlich, Menschen sind in der Lage, so etwas zu tun. Aber ist es auch nachvollziehbar?

Ein gutes Beispiel ist der Kannibale und Serienkiller Hannibal Lecter aus »Das Schweigen der Lämmer«. Seine Morde, das Verspeisen seiner Opfer, das alles ist menschlich – aber nachvollziehen können das die wenigsten von uns. Hoffe ich. Die Figur des Hannibal wäre aber misslungen, wenn uns Autor Thomas Harris ihr nicht etwas gegeben hätte, was der Leser nachvollziehen kann: Lecters Wunsch, nach den Jahren in Gefangenschaft in einem Keller ohne Tageslicht in eine Zelle mit einem Fenster verlegt zu werden, von der aus er wieder einen Baum sehen kann.

Ken Follett bringt die Essenz auf den Punkt. Vielleicht ist er auch deshalb einer der erfolgreichsten Autoren auf diesem Planeten. Schneiden wir uns alle ein Stück von ihm ab. Es müssen ja nicht seine Nieren sein. (Auch nicht seine Leber, gell, Herr Lecter.)

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

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