So schreiben Sie Feuer und Flammen

Folgendes Zitat hat mich zum Artikel von heute inspiriert. Ich hoffe, es inspiriert auch Sie:

Das unerbittlich Theaterhafte des Londoner Lebens ist in Shakespeares Werk enthalten. Seine Welt ist blutrünstig, und seine Figuren sind prall von Witz, Neugier und Anmaßung, als wüssten sie, wie begrenzt ihre Zeit ist. Sie leben auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung. Sie sind auf der Hut wie Tiere, die mit Angriffen rechnen. Ihre Welt, um Hamlet zu zitieren, ist aus den Fugen.

(aus: Peter Kümmel, Der Größte, DIE ZEIT Nº 16/2014 vom 14. April 2014 http://www.zeit.de/2014/16/shakespeare-der-groesste/komplettansicht)

Der Autor des Artikel, Peter Kümmel, erweist sich damit nicht nur als Shakespeare-Kenner (ich bin keiner, daher verlasse ich mich auf sein Urteil). Kümmel bringt auch – für mich – zentrale Aspekte eines besseren Romans zur Sprache.

Shakespeares Welt sei blutrünstig. Das heißt: Sie ist voller Konflikte. Es gibt nicht nur den einen, zentralen Konflikt (»Wer war der Mörder?«, »Wie kriegt sie den Mann?«). Sondern die ganze Welt besteht aus ihnen. Sprich: Jede Szene wird von Konflikten getrieben, jeder Dialog ist davon befeuert. Vor allem aber, auch das führt uns Shakespeare wieder und wieder vor: Die Charaktere selbst werden von den Konflikten, die in ihrem Inneren lodern, verzehrt. Hamlet. Othello. All die tragischen Figuren, die vor weitreichenden Entscheidungen stehen oder versuchen, mit den Folgen ihrer Entscheidungen zu leben. Oder zu sterben.

Konflikte allein aber reichen nicht, auch das steckt in dem Wort »blutrünstig«. Konflikte müssen etwas bedeuten, sie müssen zählen. Die Einsätze müssen hoch sein, es muss viel oder alles auf dem Spiel stehen.
Wie oft haben Sie sich schon durch belanglose Szenen in anderen Romanen gequält und sich gefragt, wann denn endlich mal was passiert? Tatsächlich sind es oft nicht die Action, die wir in diesen Fällen vermissen. Häufiger als das fehlt uns das Gefühl, die Szene bedeute irgendetwas, die kleinen Konflikte darin würden eine Rolle für die Konfliktparteien spielen.

Mehr Shakespeare wagen heißt: Mehr Konflikte wagen und höhere Verluste für die Charaktere, falls sie den Konflikt verlieren. Es muss nicht gleich die Welt auf dem Spiel stehen. Aber die ganz persönliche Welt des Charakters, die sollte bedroht sein. Und das will ich in jeder Zeile spüren, jeder i-Punkt soll davon bersten.
Shakespeares Figuren seien prall von Witz, schreibt Kümmel, prall von Neugier und Anmaßung. Mit anderen Worten: Sie leben. Sie leben mit jeder Faser. Sie haben Ansprüche an das Leben. Zugleich fehlt es ihnen nicht an Witz. Sie wissen um die Unmöglichkeit ihrer Ziele. Entweder lachen sie darüber oder sie bringen sich um. Was ihnen ihr Leben ganz sicher nicht ist: gleichgültig.
Diese Gleichgültigkeit dem eigenen Leben, den eigenen (vom Autor behaupteten) Zielen gegenüber erlebe ich in Romanen andauernd. Warum soll sich ein Leser für das Schicksal eines Charakters interessieren, wenn der das nicht einmal selbst tut? Shakespeares Charaktere könnten an ihrem eigenen Leben nicht interessierter sein.

Und die Anmaßung? Jeder Charakter bei Shakespeare ist der festen Überzeugung, er selbst stehe im Mittelpunkt der Handlung. Wenn die Charaktere, gerade die Nebenfiguren, in Ihrem Roman wüssten, sie spielten in einem Roman mit – dann sollten Sie gefälligst die Bühne für sich beanspruchen wollen.
Geben Sie den Lesern bei jeder Figur dieses Gefühl: Der Charakter steht im Zentrum seines eigenen Lebens und ebenso versucht er, sich auch in Ihrer Geschichte ins Zentrum zu drängen. In den meisten Fällen werden Sie als Autor das nicht zulassen. Aber der Leser muss das Gefühl bekommen, dass dieser Charakter sich selbst für bedeutend, ja, für unverzichtbar hält.

Die Charaktere bei Shakespeare agieren laut Kümmel, »als wüssten sie, wie begrenzt ihre Zeit ist«. Shakespeares Stücke sind kurz. Da zählt jedes Wort. Natürlich kann man Theatergängern keine so lange Geschichte zumuten wie Lesern. Aber das scheinen viele Autoren als eine Einladung zum Schwafeln zu betrachten. Kaum zu glauben, wie viel Belangloses zwischen zwei Buchdeckel passt. Papier (und zunehmend auch das Lesegerät) beweist, wie geduldig es ist.

Was für mich aber noch Wichtigeres in Kümmels Satz steckt: Bei Shakespeare spürt man die Dringlichkeit in jeder Zeile. Genau die vermisse ich insbesondere in Texten von Roman-Anfängern. Jede Figur scheint da alle Zeit der Welt zu haben, sei es für belanglose Dialoge (»Hallo. Wie geht es dir?«), vom Thema des Romans unberührte innere Monologe, für Gänge zum Bäcker und ins Blumengeschäft, auf denen nichts passiert oder um sich endlose Gedanken über die Funktionsweise eines automatischen Garagentors zu machen, obwohl das für die Geschichte nicht die geringste Rolle spielt. Und für den Charakter auch nicht.

Ich will Texte von Ihnen lesen, die so klingen, als hätten Sie sie gegen Pacman geschrieben, der die Buchstaben rasend schnell auffrisst. Ich will Texte von Ihnen lesen, bei denen ich den Eindruck habe, dass Sie sie geschrieben haben, während ihre Hände in Flammen standen und Sie hätten nur noch Sekunden gehabt, den Gedanken zu Ende zu führen. Ich will Charaktere, denen ihr eigenes Schicksal wichtig ist und die wissen, dass sie nur noch bis zum nahen Ende des Romans haben, ein Problem zu lösen von der Größe des Planeten Jupiter.

[unten geht’s weiter im Text …]


Ihr Roman ist gut. Sie können schreiben. Aber reicht das, einen Verlag zu finden? Genügt das, viele Leser zu begeistern?

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Und zwar so …


Shakespeares Charaktere, so Kümmel, lebten auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung. Auch das gehört in einen besseren Roman, in Ihren Roman: Charaktere, die sich ihrer Aufgabe selbst stellen und nicht die Polizei rufen oder ihre Mama, wenn ihnen die Sache zu heikel wird. Charaktere, die wissen, dass das Problem ungelöst bleibt, wenn nicht sie sich aufraffen und es selbst lösen. Es zumindest versuchen. Verdammt noch mal!

Für mich heißt »auf eigene Rechnung« aber auch: Die Charaktere, zumindest die wichtigsten, sind eigenständige Individuen, sie denken und handeln selbsttätig und jenseits von Klischees.
Nur, wer die Verantwortung für seine Entscheidungen übernimmt, wird auch die volle Last der Konsequenzen tragen müssen, all den Katzenjammer, all die Schuld, all die Scheiße – und damit dem Leser ein großes und emotional reiches und intensives Erlebnis verschaffen.
Lieber erlebe ich Charaktere, die großartig scheitern als solche, die mit angezogener Handbremse und eingezogenem Schwanz siegen. Triumphieren? Nein, solche Weicheier triumphieren nicht, schon das Wort Triumph kommt doch nur jemandem zu, der Großes vollbracht hat.

Die Charaktere bei Shakespeare seien auf der Hut wie Tiere, die mit Angriffen rechnen. Heißt für mich: Sie stehen unter Strom und Dauerspannung, leben immer kurz vorm Kurzschluss, vorm Überkochen, Explodieren. Sprich: Sie sind eine einzige Konfliktknospe. Ein zarter Stupser, und sie verschleudern ihre Gefühle, ihre Ansichten, ihre Gefährlichkeit wie indisches Springkraut seinen Samen. Und wie indisches Springkraut sorgen Sie für eine Epidemie, lassen ihre Konflikte, ihre Probleme auch all die Menschen um sie herum berühren, nein: entflammen. Bis der ganze Roman lichterloh brennt.
Ich will Romane von Ihnen, die so heiß sind, dass die Gesichter seiner Leser beim Umblättern Verbrennungen mindestens ersten Grades erleiden. Ich will Romane von Ihnen, bei denen der Verlag Topflappen mitliefern muss.

Die Welt von Shakespeares Charakteren sei aus den Fugen, schreibt Kümmel. Ich will sehen, wie die Charaktere Ihres Romans alles dafür tun, sie wieder in die Fugen zu bringen. Ich will sehen, wie ihnen ihre Welt unter den Fingern zerfällt, Kachel für Kachel. Ich will bei Ihnen lesen, wie jeder Versuch, eine Kachel zu retten, zwei andere Kacheln zerbricht.
Ich will eine Welt in Trümmern und Ihre Roman-Charaktere mittendrin. Wie ratlos umherirrende Überlebende nach dem Feuersturm auf Dresden. Ich will Charaktere besichtigen, die sich sagen: Ja, das schaffen wir, aus diesen Trümmern bauen wir etwas nach Schöneres auf. Ich will Charaktere, die sich übernehmen, die groß denken und noch größer handeln. Die so weit über sich hinauswachsen, dass ihre Köpfe in die Wolken ragen.

Leider haben sich die Leser schon so sehr ans blutleere Mittelmaß gewöhnt, dass sie nicht nur Angela Merkel als Kanzlerin wollen und auch verdient haben. Nein, die Gewöhnung geht leider schon so weit, dass Texte mit Wumms und Charaktere mit Arsch in der Hose die zartbesaiteten Leser verschrecken. Gefragt ist Weichspül-Wellness, und wenn Sie Bücher verkaufen wollen, dann legen Sie bloß nicht zu viel Kraft und Leidenschaft in Ihre Geschichten und schon gar nicht in Ihre Sprache.

Shakespeare heute? Unverkäuflich.

Scheiß drauf. Lieber groß scheitern als kleinbeigeben. Schreiben Sie so, dass Will stolz auf Sie wäre.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014


??? Meine Frage an Sie: Was können wir noch von Shakespeare lernen? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂


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