„Wer erzählen kann, gewinnt Souveränität“, sagt der durch humorvolle Kurzgeschichten bekannt gewordene ehemalige Journalist Axel Hacke (ZEIT-Magazin 16.12.2020). Das gleiche gilt auch umgekehrt: Zum Erzählen gehört eine souveräne Erzählstimme. Es ist ein sich selbst verstärkender Prozess.

Nur ein souveräner Erzähler zieht den Leser in seine Erzählung. Erinnern Sie sich an die Märchenonkels und -tanten Ihrer Kindheit. Am liebsten hörte man denen zu, die selbstbewusst auftraten und ihre Geschichte überzeugend vortrugen. Sie mussten nicht einmal freundlich sein – waren sie unheimlich, strahlten sie etwas Düsteres aus, umso besser. Zuhören (oder Lesen) heißt auch, sich dem Erzähler anzuvertrauen. Ein zögerlicher, ein stotternder, gar ein unglaubwürdiger Erzähler ist das Ende jeder noch so guten Geschichte.

Arbeiten Sie an Ihrer Erzählstimme, bis Sie in Ihrem Roman die Souveränität ausstrahlen, die man von einem Erzähler erwartet. Was gehört dazu? Ein sicheres, selbstbewusstes Auftreten. Beim Schreiben heißt das: Schreiben Sie aktiv. Und vielleicht verzichten Sie doch lieber auf solche Wörter, die den ganzen Text tendenziell eher verlangsamen oder ihn gewissermaßen ins Stolpern bringen. Klingt das souverän? Nein? Wie wäre es hiermit: Verzichten Sie auf Wörter, die den Text verlangsamen oder ihn zum Stolpern bringen. Geht es noch souveräner? Ja: Lassen Sie weg, was den Text bremst. (Was aber, wenn der Erzähler in Ihrer Geschichte oder die Figur, aus deren Perspektive Sie erzählen, ein schüchterner Mensch ist? Dann schreiben Sie auf souveräne Weise unsouverän. Wie genau Sie das schaffen, dazu mal in einem anderen Artikel mehr.)

Zeigen Sie dem Leser, dass er Ihnen vertrauen darf. Vertrauen ist ein Gefühl, ein Wohlgefühl. Lassen Sie den Leser spüren, dass er bei Ihnen gut aufgehoben ist. Enttäuschen Sie ihn nicht. Zu Anfang Ihres Romans machen Sie Versprechungen darüber, was den Leser erwartet. Erzeugen Sie auf den ersten Seite eine düstere Atmosphäre voller unguter Vorahnungen, erwartet der Leser im Verlauf der Geschichte angenehm Schreckliches. Überraschen Sie ihn dann mit einer lockeren Schmonzette, fühlt er sich zurecht verraten.
Gelegenheit, Vertrauen aufzubauen, haben Sie während des ganzen Romans, mit jeder Seite, jedem Absatz, jedem Wort – zugleich können Sie dieses Vertrauen jederzeit verspielen.
Das Vertrauen Ihrer Leser zu Ihnen wird umso mehr wachsen, je häufiger Sie sie durch überzeugende und emotional starke Momente hindurchführen: Da, denkt er, wieder eine Szene, die mich zum heulen oder zähneknirschen bringt, eine fiese Überraschung, eine unerwartete Wendung – und Sie als Erzähler bleiben in der Spur und behalten alle Zügel des Plots im Griff. Das schafft Vertrauen.
Mit wissenswerten Informationen, klugen Bemerkungen und ironischen oder humorvollen Einsprengseln an den richtigen Stellen und im richtigen Maß erhalten Sie sich das Vertrauen Ihrer Leser.

Zu einem souveränen Erzähler gehört Authentizität. Überzeugen Sie den Leser, dass die Geschichte aus Ihrem Inneren kommt und nicht bloß, sagen wir, für Geld und Ruhm geschrieben wurde – egal, was Ihre wahren Gründe sind. Zur Authentizität gehört, dass der Leser bei Ihnen als Autor eine starke emotionale Beteiligung am Geschehen spürt – ohne dass diese Ihre Fähigkeiten als Erzähler trübt. Wenn Sie als Autor, allem Anschein nach, der eigene Text nicht interessiert, wie können Sie dieses Engagement von Ihrem Leser erwarten!

Souveränität ist auch eine Charakterfrage. Wenn Sie eher ein zurückhaltender Mensch sind, werden Ihre Texte das in einem gewissen Maße spiegeln. Kein Problem. Als Autorin sind Sie der Märchentante gegenüber im Vorteil: Sie können überarbeiten. (Von den Freuden der Überarbeitung lesen Sie hier …) Wenn Sie sich dessen bewusst sind, achten Sie beim Überarbeiten gezielt darauf und ändern die weniger souverän klingenden Stellen.
Und da die Souveränität von Erzählerin und Erzähler – Märchtentante, Märchenonkel – ein sich selbst verstärkender Prozess ist, gewinnen Sie durchs Schreiben auch persönlich an Souveränität.

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??? Meine Frage an Sie: Was gehört für Sie zu einem souveränen Erzähler, dem Sie sich gerne anvertrauen? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar …