Zwei Varianten von Unkenntnis und wie sie Ihrem Roman nutzen

Nachahmung, so schreibt Gerd Gigerenzer, sei eine rasch wirksame Methode, sich Fertigkeiten anzueignen und die Entwicklung voranzutreiben (alle Zitate in diesem Artikel aus: »Bauchentscheidungen«, C. Bertelsmann 2007). Beschränke sich aber jeder nur auf Nachahmung, gebe es keinen Fortschritt.
Seine Folgerung: »Unkenntnis der Regeln kann die Regeln verändern.«

Letzteres ist für viele Autoren sicher eine sehr verführerische Vorstellung. Warum Regeln beachten oder gar beherrschen, wenn man neue erschaffen kann – und zwar einfach ohne darüber nachzudenken, einfach, indem man schreibt?

Wie schon häufiger hier erwähnt, sind die einzigen Regeln im engeren Sinn, die Sie beim Schreiben belasten sollten, die Regeln von Rechtschreibung und Grammatik. Der Rest setzt sich zusammen aus Jahrhunderte alten Erfahrungswerten, Beobachtungen, psychologischen und insbesondere emotionalen Reaktionen und Mustern, die zu beachten in den meisten Fällen sinnvoll ist. Feste Regeln sind das nicht.
Die Unkenntnis dieser Aspekte, die beim Schreiben im Allgemeinen und beim Erzählen im Besonderen funktionieren, wird bei Ihnen und Ihrem Roman jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dazu führen, dass Sie diese bewährten Erzählmuster verändern – sondern allein dazu, dass Ihr Roman nicht funktioniert und keinen Agenten, keinen Verlag, keine Leser, keinen Absatz findet.

Ja, tut mir leid.

Meiner Ansicht nach sind die erfolgreichsten Romane der letzten Jahrzehnte die – ob aus Kenntnis oder Unkenntnis, ob beabsichtigt oder zufällig –, die bewährten Mustern gefolgt sind, um die Leser zu fesseln und dann diesem Bewährten Neues, Einzigartiges hinzugefügt haben. Dazu zählen unter anderem die Harry-Potter-Romane ebenso wie die Thriller von Dan Brown, die ganzen Young-Adult-Dystopien, allen voran »The Hunger Games« und natürlich »Shades of Grey«.
All diese Autoren haben andere Autoren nachgeahmt – was zu Beginn einer Autorenkarriere sicher keine schlechte Idee ist. Es ist, so Gigerenzer, eine »rasch wirksame Methode, sich Fertigkeiten anzueignen«. Bei der Nachahmung sind sie jedoch nicht stehen geblieben, sondern haben ihren Geschichten etwas hinzugefügt, was man so zuvor noch nie gelesen hat. Ich vermute, dass dies bei den wenigsten so geplant war. Und es hat nur deshalb so gut funktioniert, weil sie alle im Kern eine Geschichte nach bewährten Mustern erzählen, bewusst oder unbewusst – aber doch, zumindest implizit, wissend.
Diese Erzählmuster verändert aber hat keiner der genannten Autoren. Sie hatten lediglich ihre eigene, neue Art damit umzugehen.
Ihre Erfolge ändern nichts daran, dass die meisten Bestseller von Autoren geschrieben werden, die ganz genau wissen, was sie da tun. Fragen Sie mal James Patterson.

Auf die eigene Unkenntnis zu vertrauen, in der Hoffnung, die eigene Genialität werde die Regeln neu schreiben, ist dagegen alles andere als genial, sondern schlicht dumm.

Weit spannender ist für Sie und Ihre Romane ein anderer Aspekt, der in Gigerenzers Buch ebenfalls erwähnt wird: Wenn Sie sich nicht die Regel-Unkenntnis des Autors ansehen, sondern die seiner Charaktere.
Hier kann gerade seine Unkenntnis der Regeln dafür sorgen, dass der Charakter tiefer in den Schlamassel gerät, sprich: es mehr und stärkere Konflikte gibt. Gigerenzer bringt zwei Beispiele aus der klassischen Literatur: Parzival und Siegfried. Siegfried, der naive Held aus dem Ring der Nibelungen, sucht sich seine Aufgaben, seine Abenteuer nicht gezielt aus, sondern er gerät unversehens in sie hinein.

Gigerenzer dazu: »Die Macht der Unwissenheit, die den gesellschaftlichen Wandel beschleunigt, ist ein literarisches Leitmotiv.« Gerade dass solche Charaktere die (sozialen) Regeln nicht kennen, mache sie stark. Denn »Unkenntnis – und daher Missachtung – des Status quo ist eine wirksame Waffe zum Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung.«

Ein moderneres Beispiel kann man sich schnell konstruieren, sicher haben Sie Varianten davon schon gelesen oder im Film gesehen: Ein Reisender gerät in eine ihm fremde Stadt und legt sich ausgerechnet mit dem Sohn des Sheriffs/Großgrundbesitzers/Königs an – ein grober Verstoß gegen die sozialen Regeln, der von der Gesellschaft der Stadt geahndet werden muss. Im Extremfall ist die ganze Person des Reisenden ein Regelverstoß – wie in Gullivers Reisen, wo der Held in jeder der Welten sofort als extremer Außenseiter auffällt und nicht die geringste Ahnung von den örtlichen Gepflogenheiten hat.
Am Ende einer solchen Geschichte hat sich nicht unbedingt der Held verändert, sondern die Umstände, vielleicht hat das ganze gesellschaftliche Gefüge Risse bekommen oder wurde sogar umgestürzt.

Sehr gut gefällt mir auch Gigerenzers Beispiel Christoph Kolumbus. Kolumbus’ Erfolg kam zustande durch die Kombination von grandiosem Irrtum und der felsenfesten Überzeugung, Recht zu haben. Kolumbus beharrte bis zu seinem Tod auf der Ansicht, er hätte Indien erreicht.
Das Spannende aus diesem Beispiel für Ihren Roman: Hätte Kolumbus gewusst, dass Indien so weit entfernt ist, wäre er vermutlich gar nicht erst in See gestochen.

Wie sieht das mit dem Helden Ihres Romans aus? Ist das Ziel, das er am Ende erreicht, so gewaltig, dass das Wissen darüber ihn lähmen und verhindern würde, dass er sich überhaupt aufmacht, es zu erreichen? Vom Plot her heißt das: Weiß der Held im Plotpoint 1 am Ende des ersten Akts, worauf er sich einlässt und worauf er sich verpflichtet?

[unten geht’s weiter]

——————Stephan Waldscheidt schreibt als Paul Mesa——————-

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Hätte Frodo im »Der Herr der Ringe« bei den Elben den Einen Ring genommen, wenn er gewusst hätte, was auf ihn zukommt? Er hätte es getan, wenn er bereits zu Beginn ein Held gewesen wäre. Aber das war er nicht. Sehr wahrscheinlich wäre er beim Anblick der Größe seiner Aufgabe zusammengebrochen und hätte gekniffen.

Diese Problematik eröffnet große Chancen für einen besseren Roman.
1. Ihr Protagonist hat im Plotpoint 1 keine realistische Vorstellung, worauf er sich einlässt. Die kommt erst nach und nach.
Eine solche Methode kann wirkungsvoll sein, wenn Sie möchten, dass Ihr Protagonist sich im Lauf des Romans verändert. Er wächst mit seiner Aufgabe und er wächst mit der Erkenntnis, was seine tatsächliche Aufgabe ist.
2. Ihr Protagonist weiß im Plotpoint 1 ziemlich genau, was auf ihn zukommt. In diesem Fall ist er entweder schon von Anfang an ein Held. Oder – und das ist das dramatisch so Aufregende an dieser Variante – er muss im Zeitpunkt seiner Entscheidung für seine Aufgabe schlagartig zum Helden werden. Sprich: Die Entscheidung ist bereits die erste und vielleicht wichtigste Heldentat. Und ein großartiger, überwältigender Moment in Ihrem Roman!
Man kann darüber streiten, ob Frodos Entscheidung aus Unkenntnis geschah oder bereits eine gewaltige Heldentat war. Oder eine Mischung aus beidem.

Noch etwas anderes macht die Unkenntnis des Protagonisten über die Schwere seiner Aufgabe so interessant: Als Leser erlebt man direkter mit, wie die Aufgabe wächst und wächst: Einen Ring zu einem Berg tragen? Machbar. Ihn durch Armeen von Orks bringen? Schwieriger. An einer gigantischen Spinne vorbei? Uuh! An den eigenen Schwächen vorbei? Nahezu unmöglich.

Jetzt haben Sie noch ein Stück Unkenntnis mehr verloren, fürchte ich. Ich möchte Sie ermutigen, sich weiterhin Kenntnis im Thema Schreiben und Erzählen anzueignen und schließe mit Gerd Gigerenzer:

»Unwissenheit kann wirksam sein, ist aber kein Wert an sich. Sie kann helfen, soziale Veränderung in Situationen voranzutreiben, die den hier beschriebenen ähneln, ist aber alles andere als ein Universalrezept. Allen Geschichten, die ich wiedergegeben habe, ist ein erhebliches Maß an Ungewissheit oder sozialer Unvorhersagbarkeit zu eigene. Unwissenheit wäre von geringem Nutzen bei alltäglicher Problemlösung, wo Effizienz und Sachverstand gefragt sind.«

Also beim Plotten und Überarbeiten Ihres Romans.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Wie macht sich Unkenntnis noch bezahlt für Charaktere oder für den Autor? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

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