Über Ihren idealen Leser – und meinen neuen Roman

Für wen schreiben Sie? Manche Ratgeber empfehlen, sich einen idealen Leser vorzustellen, mit dem man während des Schreibens eine Art »einseitiges Zwiegespräch« führt: Ihr Kommunikationsmittel ist Ihre Geschichte, der Leser spricht mit von Ihnen erfundenen Erwiderungen. Für die einen funktioniert das.
Anderen ist das zu albern. Sie schreiben vor allem für sich selbst.

Wieder andere denken bewusst an Zielgruppen. Sie wollen ein bestimmtes Publikum erreichen. Andere denken nicht bewusst an eine bestimmte Leserschaft, und dennoch schreiben sie für eine. Dazu gehören alle Autoren, die sich in einem bestimmten, klar abgegrenzten Genre bewegen. In einem Genre schreiben, heißt: Erwartungen der Leser kennen und sie erfüllen. Die besseren Autoren unter ihnen übererfüllen diese Erwartungen sogar.

In dem Wort »Zielgruppe« steckt das Wort Ziel. Für Sie als Roman-Autor klicken da sofort die Schaltkreise im Kopf. Sie denken ans Plotten: Ein überzeugender Roman-Protagonist verfolgt ein Ziel, und das mit Nachdruck und hochmotiviert. Protagonisten, die ziellos daherkommen, tragen nur in seltenen Fällen einen Roman von mehreren hundert Seiten – häufig steigen die Leser lange vorher aus, weil sie das Rumgeeiere eines solchen Charakters nicht länger ertragen. Ein Protagonist ohne Ziel spielt fast immer die Hauptrolle in einem Roman, der auf nichts herausläuft.

Wie ist das bei ziel(gruppen)losen Autoren? Was bedeutet das überhaupt, wenn ein Autor weder bewusst noch unbewusst für eine bestimmte Leserschaft schreibt? Kann der Roman eines solchen Autors funktionieren?

Es kommt darauf an. Auf den Autor ebenso wie auf den Roman.

So kann ein Autor, der für sich selbst schreibt, eine sehr kleine Zielgruppe sein, im Extremfall eine Gruppe von nur einer Person. Der Roman eines solchen Autors mag vor Privatwitzen und Gedanken strotzen, die niemand sonst versteht, zu denen kein anderer Zugang findet, die niemanden sonst berühren. Ein Art autistischer Literatur. Das Buch wird sich nicht verkaufen.

Was aber, wenn der für sich selbst schreibende Autor so ist, wie viele andere? Wenn er Ideen und Einstellungen hat, eine Lebenshaltung, eine Sprache, die mit Haltungen und Einstellungen vieler anderer übereinstimmt oder zumindest viele Überschneidungen mit ihnen aufweist?
In dem Fall hat der Autor, was den möglichen Verkaufserfolg anbelangt, Glück. Aus diesem Grund werden manchmal auch Bücher Erfolg, deren Autoren ziel- und planlos drauflosschreiben. Das vermeintliche Naturtalent aber ist häufig bloß von Natur aus ein ganz gewöhnlicher – heißt: durchschnittlicher – Mensch.
Dieses Durchschnittliche hat manchmal nichts damit zu tun, ob der Autor nach außen hin eher gewöhnlich oder eher ungewöhnlich erscheint. Entscheidend für den Verkaufserfolg sind die inneren Berührungspunkte, die er mit seiner Leserschaft findet.

Die schlechte Nachricht: Radikal ändern können Sie das bei sich selbst nicht. Wenn Sie ein Mensch sind, der sehr viel anders ist als der Durchschnitt der anderen, der anders tickt, von anderen Dingen bewegt wird als die Mehrheit, haben Sie es schwerer, einen Roman zu publizieren, der ein großer Verkaufserfolg wird.

Es gibt jedoch gleich mehrere gute Nachrichten.
Die Erste davon: Wenn Sie sich dieses Umstands bewusst sind, können Sie einiges dafür tun, mehr Menschen mit Ihren Texten zu erreichen. Etwa, indem Sie Dinge in Ihren Roman packen, die sich bei anderen Romanen und Bestsellern bewährt haben. Etwa eine bestimmte Art Liebesgeschichte. Oder eine gewisse Sorte Charaktere.
Das Entscheidende hierbei ist, dass Sie trotz der bewussten Steuerung einiger Roman-Elemente authentisch bleiben. Das heißt, Sie bauen zwar eine Lovestory in Ihren Krimi ein (weil das die meisten Leser mögen), aber Sie tun das dennoch auf Ihre eigene Art.

Die zweite gute Nachricht: Es gibt sehr, sehr viele Leser da draußen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie eine Zielgruppe von eins sind, ist verschwindend gering. Sehr viel wahrscheinlicher gibt es eine Menge Leute, die Ihnen in vielem ähneln.
Für einen Verlag mag diese Gruppe Leser zu klein sein. Ein großer Verlag braucht große Auflagen, sprich: große Zielgruppen, weil er hohe Kosten hat.
Als Selfpublisher aber können Sie kleinere Zielgruppen ansprechen, Menschen, die so ticken wie Sie, die an den Stellen in einem Buch heulen, in dem auch Sie gerührt sind, die über Witze lachen, über die auch Sie selbst sich kringeln. Und die Menschen dieser Gruppe mitten ins Herz treffen.

Die dritte gute Nachricht: Wenn Sie eine solche Zielgruppe finden und ansprechen, sind die Chancen gut, dass Sie damit sehr treue Leser finden, mit Glück sogar Fans. Sie wissen ja, wie das ist: Je kleiner eine Gruppe, desto stärker ist häufig auch ihr Zusammenhalt. Denken Sie an das gallische Dorf bei Asterix. An das Zusammengehörigkeitsgefühl in Familien, manchen Vereinen, kleinen Unternehmen.
Denn Sie tun etwas für diese Gruppe, was außer Ihnen nur wenige oder sogar noch niemand getan hat: Sie geben diesen Lesern etwas, das genau dem entspricht, was sie mögen. Von den Büchern in den großen Verlagen sind diese Leser oft enttäuscht. Sie fühlen sich wie eine empfindliche Orchideenart. Die großen Verlage gießen und düngen alle Pflanzen gleich, ob Buchsbaum, Tagetes, Rosen oder eben Orchideen. Am besten blühen tun die Orchideen dann, wenn sie exakt ihren Bedürfnissen entsprechend behandelt werden.

Zwei Herausforderungen warten auf Sie.

Die Erste: Wie finden Sie genau diese Gruppe?
Halten Sie sich dort auf, wo Sie auch die Mitglieder dieser Gruppe vermuten, also in bestimmten Foren, Netzwerken, Blogs. Suchen Sie Bücher, die Ihrem Roman am Nächsten sind, und versuchen Sie, über diese Schiene an Ihre idealen Leser heranzukommen.
Das geht nicht von heute auf morgen. Sie brauchen Zeit, Jahre, müssen Fehlversuche einkalkulieren.

Die zweite Herausforderung: Machen Sie die Leser zu treuen Lesern und die treuen Leser zu Fans.
Auch dazu brauchen Sie Zeit, noch mehr Zeit. Vor allem aber brauchen Sie Bücher, je mehr, desto besser. Wer ein Buch von Ihnen gut findet, soll gleich ein zweites kaufen können. Hier bieten sich Buch-Reihen an, in jedem Fall aber eine Produktivität, die dafür sorgt, dass die Leser rechtzeitig Nachschub bekommen, bevor sie Sie vergessen haben.

Zu diesem Finden und Pflegen einer kleinen, aber feinen Leserschaft gehört noch etwas. Nehmen Sie bewusst in Kauf, dass Sie Leser außerhalb dieser Gruppe vor den Kopf stoßen. Nicht jeder soll und muss Sie mögen. Langfristig besser als zehntausend Leute, die Ihre Bücher so lala finden (und sowieso höchstens ein einziges kaufen), sind tausend Fans, die Ihre Bücher lieben (und alles verschlingen, was Sie herausbringen).

Mit meinem jetzt erschienenen Roman »Insein für Outsider« bin ich (als Paul Mesa) diesen Weg gegangen. Meine fünfzehnjährige Heldin Aja ist ein starker Charakter mit einer klaren Haltung. Sie ist wütend, sie ist verletzt, sie ist durchgeknallt – und sie ist witzig. Finden ich und mein idealer Leser. Nicht jeder Leser aber wird sie mögen, nicht jeder wird ihren Humor verstehen, nicht jeder wird mit ihr weinen, wenn sie weint. So what? Diese Leute gehören nicht zu meiner Zielgruppe.

Mein Roman ist eine romantische Komödie, eine Liebesgeschichte zwischen Fünfzehnjährigen. Ein klassischer Jugendroman ist sie nicht, auch Erwachsene spielen eine Rolle, die Themen sind teils altersabhängig, teils altersunabhängig. Daher habe ich dem Buch auch die Bezeichnung »Jugendroman für Erwachsene« gegeben.
Ihr idealer Leser kann und sollte auch davon abhängig sein, unter welchem Pseudonym Sie welche Art von Texten schreiben. Dieser ideale Leser ist ein anderer, wenn Sie als Maria Roby Pferderomane für Mädchen ab zwölf schreiben und als Ben Becks harte Thriller für finstere Stunden.

Mein idealer Leser (in meiner Inkarnation als Paul Mesa!) ist kein Klugscheißer oder Pfennigfuchser, niemand, der einen Roman liest, weil er darin so viel lernen will wie aus einem Sachbuch (schon aus diesem Grund ist es eher kein Mann ;-)). Mein idealer Leser ist kein Literaturwissenschaftler, der Romane analysiert und dem Emotionen suspekt sind. Mein idealer Leser rümpft nicht die Nase bei guter Unterhaltung und Happyends. Mein idealer Leser will nicht immer dasselbe lesen, will nicht immer nur seine Vorurteile bestätigt sehen. Mein idealer Leser liest nicht nur ein oder zwei Genres. Mein idealer Leser liest nicht nur die für ihn bestimmte Literatur: nur Jugendbücher, nur Frauenbücher, nur Bücher für Krimileser mit einem Faible für Cornwall.

Mein idealer Leser ist eine Frau. Sie liest auch gern über Jugendliche, obwohl sie selbst keine Jugendliche mehr ist. Sie mag Menschen jeden Alters. Sie findet ein Kind so interessant wie einen Teenager oder wie eine alte Frau, einen Inder so spannend wie einen Chinesen oder einen Schweden. Es kommt ihr auf den Menschen an. Ihr ist die Geschichte wichtig, weil sie gute Geschichten liebt. Sie mag starke Charaktere und eine Sprache, die eine Haltung vermittelt, kein Wischiwaschi oder pseudointellektuelles Geschwurbel. Sie mag eine in sich schlüssige, dramatische Handlung mit vielen Wendungen, motivierte Charaktere mit einem klaren Ziel. Sie will lachen und sie will weinen und am besten alles gleichzeitig. Sie ist leidenschaftlich und sie erwartet diese Leidenschaft auch von den Romanen, die sie liest. Sie will berührt und zugleich intellektuell gekitzelt werden. Sie ist aufgeschlossen und offen für Neues, Unerwartetes, Unerhörtes, Überraschungen. Sie ist klug, aber nicht arrogant. Ihr Leben ist zu voll, um es mit langweiligen Geschichten zu verschwenden. Sie will sich gut fühlen, wenn sie das Buch aus der Hand legt. Vielleicht schreibt sie selbst.

Die Aufzählungen sind nicht erschöpfend. Und falls der ideale Leser ein wenig aussieht wie die Idealvorstellung, die Sie von sich selbst haben, so ist das kein Grund zur Sorge 😉

Einen Haken hat die Sache dann doch. Aber den haben Sie immer, wenn Sie schreiben. Der »ideale Leser« kann als Ausrede fungieren. Und wir Autoren sind nun mal – Berufskrankheit! – die Erfindungsreichsten bei Ausreden. Wenn jemand das Buch kritisiert, sagt man eben: nicht mein idealer Leser. Im besten Fall stimmt dann einfach mit Ihrer Vermarktungsstrategie etwas noch nicht.
Wenn sich jedoch partout kein idealer Leser findet, der Ihr Buch gut findet, könnten Sie ein Problem mit der Definition haben … Oder schlicht betriebsblind sein.

Haken und Ausreden beiseite: Für wen schreiben Sie? Und wie sieht Ihr idealer Leser aus?

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014