Der Autor als Archäologe in eigener Sache

Auf dieses Zitat einer Autorin bin ich dieser Tage gestoßen:

Wir stellen uns ganz und gar aus, zeigen, offenbaren uns. Man ist schutzlos. Und doch müssen wir alles kontrollieren, damit alles glaubhaft wirkt und bloß niemand an der falschen Stelle lacht. Wir versuchen, die Empfindungen und die Verwundbarkeiten der Menschen zu offenbaren. Und das Geheimnis zu enthüllen, weshalb wir uns in der Welt so benehmen, wie wir es tun. Es ist eine seltsame Leidenschaft. Und je älter ich werde, desto mehr interessiert es mich, diesen Beruf zu ergründen. Eines kann ich sagen: Je erfüllter und sicherer ich mich in meinem Leben fühle, desto weniger fühle ich mich getrieben oder gezwungen, diesen Beruf auszuüben. Und desto eher fühle ich mich bereit, es zu tun. (…) Man ist als [Autor] immer ein Archäologe, auch in eigener Sache.

Darin spiegelt sich sehr schön die Zweigesichtigkeit eines Autors. Auf der einen Seite das sich schutzlos Offenbaren. Jedes Mal, wenn Sie »die Empfindungen und die Verwundbarkeiten« eines Ihrer Charaktere offenbaren, offenbaren Sie auch etwas von Ihnen selbst.
Das müssen Sie nicht tun. Sie können alles in sich drin lassen, was Sie vor anderen verbergen möchten. Aber damit beschränken Sie sich selbst. Damit erschaffen Sie nicht die starke und vor allem nicht die authentische Geschichte, die Sie erzählen könnten.
Andererseits müssen Sie Ihre Charaktere, aber auch sich selbst, kontrollieren, Ihre eigenen Empfindungen und Verwundbarkeiten. Ansonsten entsteht bestenfalls eine Innerlichkeitsprosa, die Ihnen therapeutischen Nutzen bringt, letztlich aber niemanden außer Ihnen interessiert. Oder es entsteht ein Wust aus sich widersprechenden Emotionen, Motivationen, Handlungen, die keine Geschichte ergeben. Die schlimmere und leider die häufigere Variante.

Eine »seltsame Leidenschaft«, wie wahr.

Geht es Ihnen auch so wie dieser Autorin? Dass Sie sich weniger getrieben fühlen, je älter Sie werden? Dass Sie sich zugleich eher dazu bereit fühlen, zu schreiben? Für mich klingt das, als würden mit zunehmender Schreiberfahrung die Emotionen, die Getriebenheit (Motivation!) und damit auch die Dringlichkeit, die Authentizität und Wahrhaftigkeit zugunsten einer größeren Kontrolle nachlassen.

[unten geht’s weiter …]
———————————————————–

Autors kleiner Helfer
Taschenbuch | Kindle E-Book | E-Book für andere Reader | Im Buch blättern | Rezension bei Amazon verfassen

———————————————————–

Tatsächlich denke ich, dass das eine große Gefahr ist. Je mehr Sie vom Schreiben wissen, je besser Sie das Handwerk beherrschen und je bewusster Ihnen ist, was Sie da eigentlich tun, wenn Sie Wörter in die Tasten hacken, desto mehr überwiegt die Vernunft die Emotionen, desto eher versucht, eine Kontrollinstanz in Ihnen, die Leidenschaften zu zügeln – falls diese nicht sowieso schon geschwächt sind.
Das kann ein Problem werden und Ihren Texten von Ihrer Kraft rauben, der Geschichte von der Dringlichkeit, unbedingt und sofort und genau so erzählt zu werden. Die Tendenz dazu können Sie nicht aufhalten. Aber wenn Sie sich ihrer bewusst sind, können Sie gegensteuern.

Die Autorin schreibt, man sei als Autor immer auch Archäologe in eigener Sache. Ein schönes Bild. Denn die Archäologen beginnen ihre Suche ebenfalls an der Oberfläche. Wenn dort alle Erde abgetragen ist, alle Schätze geborgen sind, müssen sie tiefer graben, um noch etwas zu finden, sie brauchen genauere Methoden und Hilfsmittel.
Das ist bei Autoren nicht anders. Die Hilfsmittel haben Sie sich angeeignet, die Erfahrung ebenfalls, mit der Sie mit bloßem Auge Dinge im Sand entdecken, die der Archäologie-Studentin im vierten Semester noch entgehen. Die eigentliche Aufgabe aber ist es, tiefer zu graben, weiter in die Erde vorzustoßen, zu besser verborgenen und älteren Reichtümern in Ihnen selbst.

An diesem Punkt scheitern viele erfahrene Autoren. Ihre Bücher werden matt und vorhersagbar, technisch versiert, aber emotional verödet. Lassen Sie es nicht so weit kommen. Das erfordert – leider, aber unvermeidlich – Mehrarbeit.
Am Ende haben erfahrene Autoren den jungen wenig voraus. Die Vorteile, die ihnen die Beherrschung des Handwerks einbringt, werden aufgewogen durch die Nachteile, dass sie tiefer graben müssen. Aber wenn Sie bereit sind, Spitzhacke und Schaufel eben nicht gleich wieder wegzulegen, sondern noch eine Schicht mehr damit abzutragen, werden Sie belohnt. Mit Geschichten, Romanen, Büchern, die besser sind und reicher, leidenschaftlicher, authentischer als all das, was Sie als junger Autor zuwege gebracht haben.

Glauben Sie mir: So tief können Sie gar nicht graben, dass sich die Reichtümer in Ihrem Inneren jemals erschöpfen. Jeder Schlag mit der Spitzhacke lohnt sich.

Übrigens: Das Zitat stammt von Julia Roberts. Sie hat es nicht aufs Schreiben bezogen, sondern auf die Schauspielerei. Aber es passt, finden Sie nicht? Das vollständige Interview lesen Sie hier: http://www.zeit.de/2014/10/julia-roberts-osage-county/seite-all (DIE ZEIT Nr. 10/2014)

Autoren und Schauspieler haben vieles gemein. Wie hilfreich manche Tipps von Schauspielern auch für Autoren sein können, lesen Sie in meinem Ratgeber »Schreibtipps aus Hollywood«. Den gibt es kostenlos und exklusiv für Rezensenten meiner Bücher. Mehr dazu hier …
Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

—————————————————————————–
??? Meine Frage an Sie: Was halten Sie von dem Zitat? Stimmen Sie zu? Wenn nicht, warum nicht? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

—————————————————————————–
Ihnen hat der Artikel gefallen? Die Artikel des Blogs gibt es auch gedruckt oder als günstige E-Books für alle Reader und überall im Handel. Überarbeitet, zum Teil erheblich erweitert und noch praxisnäher. Daneben sind E-Books zu weiteren für Roman-Autorinnen und Roman-Autoren unverzichtbaren Themen erschienen.

Mehr Info: Meine Schreibratgeber für Ihren Roman

Sechs Schreibratgeber für Roman-Autoren

Reinlesen bei Amazon: E-Books | Gedruckt

—————————————————————————–

—————————————————————————–

Schreibtipps aus Hollywood von Stephan Waldscheidt

Als kleines Dankeschön, exklusiv und kostenlos für Rezensenten gibt es jetzt den Schreib-Ratgeber „Schreibtipps aus Hollywood„. Mehr dazu hier …

—————————————————————————–

Sie haben Fragen rund ums Schreiben von Romanen? Ich beantworte Sie Ihnen und Dir gerne. Einfach Mail an blog@waldscheidt.de.

Den Feed abonnieren: https://schriftzeit.de/feed.

Bei Gefallen: weiterempfehlen oder verlinken (rechte Maustaste, Link kopieren)! Danke.

Zur Seite der Federwelt