Über Aussaat und Ernte im Roman

Im dritten Akt eines Romans erntet der Autor, was er zuvor gesät hat – und all diese leckeren Sachen wie Überraschungen, Enthüllungen oder Pointen reicht er seinen Lesern weiter, sehr zu ihrem Wohlgefallen.
Gesät und geerntet werden kann so ziemlich alles. Etwa ein im ersten Akt beschriebenen Messer, das der Held jetzt zieht und sich damit aus seiner scheinbar hoffnungslosen Lage befreit – nur zunächst überraschend, bis der Leser sich an die Beschreibung der Waffe und ihres Verstecks im Stiefelschaft des Helden erinnert.
Es kann etwas Kleines sein wie ein Witz, der mehrfach begonnen wurde, und jetzt endlich seine Pointe findet. Oder etwas Großes wie der Laderoboter, mit dem Ripley am Ende des Films »Aliens – Die Rückkehr« (1986) die Alien-Mutter angreift. Dass Ripley mit dieser Maschine umgehen kann, hat sie dem Zuschauer im ersten Akt gezeigt.

Gerade in Filmen lässt sich diese Abfolge aus »Plant« und »Pay-off« (wie es, nicht wirklich zueinander passend, in der Sprache der Drehbuchautoren heißt) gut studieren. Dort nämlich versperren nicht so viele Wörter die Sicht. Kein Hollywood-Film kommt ohne eine ganze Reihe von Plants/Pay-offs aus.
An dem Beispiel aus »Aliens – Die Rückkehr« sehen Sie auch gut, was beim Säen und Ernten wichtig ist: Aus der Saat darf der Leser nicht schon erkennen, ob oder was er da später ernten darf. Entweder erkennt er das Säen gar nicht als solches (wie im Fall von Ripleys Laderoboter, der zuvor organisch in eine Szene eingebaut wurde, in der es um etwas völlig anderes als diesen Roboter ging). Oder er erkennt es, wird dann aber bewusst – von Ihnen – in die Irre geführt.

Nehmen wir das Beispiel mit dem Messer im Stiefelschaft. Sie können dem Leser zeigen, wie der Held es in seinen Stiefel schiebt. Aber am Ende, wenn der Held es dringend brauchen könnte, hilft es ihm nichts, sondern wird gegen ihn verwendet. Oder er verliert es, zunächst ohne es zu wissen.
Oder: In der Szene, wo er an den Stuhl gefesselt ist, kann er unter größter Mühe in seinen Stiefel greifen – der Leser erinnert sich an das Messer und hofft, dass der Held herankommt. Aber dann – Überraschung! – ist das Messer fort. In letzter Sekunde aber kommt jemand und befreit den Helden. Mit dem Messer. Das er dem Helden zuvor geklaut hat. Der Held erinnert sich daran, in welcher Situation das geschah.

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Wie umfangreich eine solche Säen-und-Ernten-Situation sein kann, zeigt sich in dem bahnbrechenden Spionage-Roman »Shibumi« von Trevanian (ja, es gab mal Autoren mit nur einem Namen) (Crown 1979). Dort wird im dritten Akt Held Hel von seinen Feinden in einer vermeintlich ausgangslosen Höhle eingesperrt. Im zweiten Akt hat man Hel und seinen Freund Le Cagot dasselbe Höhlensystem erkunden sehen. Der Leser hat erlebt, welche Schwierigkeiten und lebensbedrohlichen Situationen die Höhle bereithält (= Aussaat). Im dritten Akt ist Le Cagot tot, Hel auf sich allein gestellt, der Fluss in der Höhle führt viel mehr Wasser, insgesamt sind die Hindernisse weit größer (= Ernte). Erst durch das ausführliche Miterleben all der Gefahren der Höhle kann der Leser nun, im Finale, ermessen, mit welchen nahezu unüberwindlichen Schwierigkeiten Hel jetzt zu kämpfen hat.

Säen und Ernten können Sie auch und gerade beim Überarbeiten. Oft fallen Ihnen erst dann Situationen ein, wo Sie den Plant für einen Pay-off setzen. Oder Sie schieben die Aussaat weiter nach vorn. Oder Sie machen aus einer offensichtlichen Ernte eine überraschende (die Samen waren keine für Kerbel, sondern für Dill).

Sie können sehr subtil oder sehr offenkundig säen. Sie können und Sie sollten gelegentlich auch sich selbst überraschen. Ich empfehle eine Kombination, um Ihre Kreativität anzustacheln. Säen Sie einige Plotfrüchte ganz bewusst: Nehmen Sie Kopfsalatsamen »Ovation«, um einen Kopfsalat der Sorte »Ovation« bewusst zu säen.
Nehmen Sie aber auch hier und da Samen, von denen Sie keine Ahnung haben, was daraus wachsen kann. Das heißt: Vielleicht fällt Ihnen dazu am Ende dazu eine gute Plotfrucht ein. Oder Sie zeigen dem Leser die Aussaat, um ihn auf eine falsche Spur zu locken, während sie hinter seinem Rücken bewusst etwas ganz anderes anpflanzen.

Das Ernten Ihrer Saat muss sich keineswegs auf den dritten Akt beschränken. Sie können immer wieder Dinge säen und ernten und schaffen dadurch eine dichtere Story und permanente Belohnungen für den Leser.

Auch mehrstufige Plant/Pay-offs sind denkbar. So kann die Aussaat in Akt 1 eine Plotfrucht in Akt 2 hervorbringen, die wiederum als Samen dient für eine weitere Plotfrucht in Akt 3.

Zudem können Saat und Ernte der Plotfrucht in unterschiedlicher Gestalt daherkommen. Womöglich ist die Saat im ersten Akt eine Dialogzeile, die Ernte im dritten Akt aber eine Handlung, Action.
Beispiel:
Säen: Hermann droht dem Helden Martin im ersten Akt: »Wenn ich dich noch mal mit meiner Tochter erwische, dann soll sich dein Schädel auf eine Begegnung gefasst machen, die er nie mehr vergisst.«
Ernten: Hermann hat sich mit Martin ausgesöhnt, in der letzten Szene gibt er Martin einen nassen Schmatz auf den Kopf.

So, Zeit für Ihre Aussaat.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

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(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Wie kann man noch säen und ernten? Gelungene Beispiele aus Literatur oder Film? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

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