Wie Sie Ihren Roman richtig plotten

schriftzeit-Leserin Lillyn fragt:
Wie gut muss ich in der Plotphase meine Charaktere schon kennen? Für mich ist das Plotten ein sehr kreativer Prozess und ich probiere verschiedene Versionen der Geschichte aus. Je nach Version verändern sich natürlich auch manche Charaktere. Darf das sein oder laufe ich so Gefahr nicht die beste Version meiner Geschichte zu finden, weil ich mit den Charakteren zu frei umgehe?

Ein bisschen erinnert mich die Sache mit dem Plotten wie diese Sache mit der Henne und dem Ei und wer als Erstes da war.
Die eine richtige Weise zu plotten, gibt es nicht. Jeder muss für sich herausfinden, was sein bester Weg ist. Das kann sich sogar von Roman zu Roman unterscheiden, abhängig davon, was den Anstoß und die meisten Ideen für den Roman gibt. Dennoch sind da einige Anhaltspunkte, an denen Sie die für sich und für diesen einen Roman passende Weise finden, Ihre Ideen zu einem funktionierenden Plot zu formen.

Was ist der Plot überhaupt? Eine für mich sinnvolle Definition: Der Plot ist die Art, wie eine Geschichte erzählt und in eine dramatische oder epische Form gebracht wird.
So kann beispielsweise die eigentliche Liebesgeschichte mit dem Kennenlernen der beiden Liebenden anfangen und mit dem Tod des einen enden. Der Autor aber erzählt sie auf eine andere Weise, indem er mit dem Tod des einen beginnt und von da an eine dramatische Struktur findet.
Dramatisch und episch? Manche Romanen sind reine Dramen, sprich, sie sind ausschließlich szenisch aufgebaut. Andere, heute kaum noch zu finden, erzählen die Geschichte wie ein Epos ohne Szenen. Üblich sind Mischformen, wobei auch dort im heutigen Roman die szenische Erzählweise überwiegt.

Sinnvoll beim Plotten ist der Ausgangspunkt, der Sie am meisten inspiriert und Ihnen die besten Ideen schenkt. Bei dem einen sind das die Charaktere, bei dem anderen die Ereignisse einer Geschichte, bei einem Dritten ist es der Schauplatz, ein Lebensgefühl, ein besonderes Detail. Die meisten Autoren starten entweder mit den Teilen einer Geschichte oder mit Ideen über einen oder mehrere Charaktere.

Wer wie Lillyn von der Geschichte ausgeht, tut gut daran, sich mit einer kleinen Umbenennung selbst auszutricksen und sich das Leben – und vor allem das Plotten – zu erleichtern. Dann muss sie auch nicht länger fürchten, nicht die beste Version ihrer Geschichte zu finden, weil sie mit den Charakteren womöglich zu frei umgeht.
Statt beim Plotten die Charaktere (schon) als Charaktere zu bezeichnen, empfehle ich, sie zunächst als Rollen zu betrachten. Rollen ergeben sich aus einer Geschichte und sind noch unscharf – ähnlich wie der Platzhalter-Avatar auch hier weiter unten im Blog bei den Kommentaren. Die Rolle hat Umrisse, aber was in diesen Umrissen steckt, hat der Autor noch nicht festgelegt. Insofern ist das freie Umgehen Lillyns mit den Figuren ein unerlässlicher und kreativer Teil (ihrer Art) des Plottens.
Ein anderes Bild, das Ihnen vielleicht weiterhilft: Betrachten Sie beim Plotten von der Handlung ausgehend die Rollen als Schatten in einem altertümlichen Schattenspiel. Von den Personen hinter dem Leintuch ist nicht mehr zu erkennen als ihre Umrisse – vor allem aber sind ihre Handlungen zu erkennen, also das, was sie zur Geschichte beitragen.
Wenn Sie mit mir in diesem Bild noch weitergehen wollen, hängen Sie Marionetten hinter dem Leintuch auf. Bevor die Rollen zu Charakteren werden, können Sie als Autor sie fast beliebig bewegen. Und das sollten Sie, denn Rollen haben der Geschichte zu dienen, während Charaktere die Geschichte diktieren. Das ist der entscheidende Unterschied.

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Wer das Plotten mit schon erkennbaren Charakteren, also solchen ohne Fäden, aber dafür mit Gesichtern und Gefühlen, beginnt, der entwickelt seine Geschichte aus den Charakteren heraus. Tut er das nicht, werden ihm die Charaktere sehr schnell dazwischenfunken.
Das ist auch der Ursprung dieses berühmten Klischees unter Autoren, ein Charakter habe plötzlich einen eigenen Willen entwickelt. Was natürlich kompletter Unsinn ist. Tatsächlich bedeutet es, dass der Charakter bereits zu sehr ausgeformt ist – auf der Seite oder im Kopf des Autors – um sich unter dem Diktat der Rolle zu beugen und in die Richtung bewegen zu lassen, in die ihn der Autor schicken will.

Der eigentliche Knackpunkt bei der ganzen Plotterei ist: Wann ist die Rolle so weit ausgeformt, dass ich als Autor die Fäden kappen und die Leinwand beiseite ziehen kann? Hierfür gibt es keine Regel. Das müssen Sie selbst ausprobieren. Erfahrung hilft und ebenso ein Einlassen auf die Figuren und zugleich auf das Thema des Romans.

So schwierig oder essenziell aber ist das auch nicht. Sie werden es merken, wenn der Charakter noch nicht reif ist für seine Fleisch-und-Blut-Werdung. Denn sobald Sie die Fäden abschneiden, muss der Charakter auf eigenen Füßen stehen können. Das heißt, er muss ein Ziel haben, das er erreichen will und er muss die Motivation haben, sich dafür auf den Beinen zu halten. Kurzum: Er muss von nun an das Plotten selbst übernehmen! Im Bild geblieben: Wenn Sie die Fäden kappen und die Figur auf der Bühne zusammensackt, war es zu früh.

Betrachten Sie das Plotten wie Lillyn als einen dauernden Austauschprozess: Ein Ereignis zwingt den Charakter zum Handeln, womit er ein neues Ereignis kreiert.
Im Prinzip ist es wie mit der Henne und dem Ei. Man kann nicht verbindlich sagen, was zuerst da war. Aber das muss man auch nicht. Sie sind Autor, kein Vogelkundler oder Biologe. Wenn Sie mit einem Ereignis anfangen möchten, tun Sie das und lassen Sie den Protagonisten darauf reagieren. Wenn Sie mit einem Charakter beginnen, dann tun sie eben das und lassen den Protagonisten handeln, also selbst ein Ereignis kreieren. Das könnte auch das Legen eines Eies sein.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

PS: Sicher gibt es weitere Gründe, warum Charaktere einen nerven. Deshalb würde ich mich heute besonders über Ihre Erfahrungen zu diesem Thema in den Kommentaren freuen.

(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Welche Art des Plottens hat sich für Sie bewährt? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

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