Wie mehrere Erzählperspektiven Ihren Roman besser machen

Ein Regisseur arbeitet fast immer mit mehreren Kameras. Durch verschiedene Einstellungen macht er seinen Film welthaltiger, spannender und die Charaktere interessanter. Beim Schreiben tun Sie Vergleichbares, wenn Sie aus mehreren Perspektiven erzählen.
In den meisten Fällen benutzen Autoren dieses Mittel, um die Handlung an unterschiedlichen Orten und von unterschiedlichen Charakteren zu zeigen, sie tun es auch, um die Gedanken und Sichtweisen mehrerer wichtiger Charaktere vorzustellen.

Aber dieses Instrument verschiedener Erzählperspektiven kann noch weit mehr. Was für viele Mittel beim Schreiben eines Romans gilt. Leider aber fahren zu viele Autoren ihren Roman wie einen Ferrari, den sie immer nur im ersten Gang und bis maximal 30 km/h bewegen. Oder sie spielen auf der breiten Klaviatur immer nur eine einzige Oktave rauf und runter und ignorieren den Rest der Tasten und damit den Rest der Ausdrucksmöglichkeiten.

Sehen wir uns einen Ausschnitt aus Elizabeth Georges Roman »This Body of Death« an (Hodder & Stoughton 2010 / dt. »Wer dem Tode geweiht« / eigene Übersetzung). Auf Seite 105 lernen wir eine Nebenfigur kennen, Bella McHaggis. Die Szene ist personal aus ihrer Sicht erzählt.

Bella McHaggis war völlig schweißgebadet, aber auf eine gute Art. Sie hatte gerade ihre Klasse »Heißes Yoga« beendet – obwohl jedes Yoga bei diesem Wetter heißes Yoga gewesen wäre – und sie fühlte sich sowohl rechtschaffen als auch friedlich. Sie hatte Mr McHaggis dafür zu danken. Wäre der arme Kerl nicht auf dem Toilettensitz gestorben, sein Teil in der Hand und das Seite-Drei-Mädchen vor sich auf dem Boden, aufreizend aufgeblättert, wäre sie wahrscheinlich noch immer in derselben Form, in der sie sich an jenem Morgen befunden hatte, als sie ihn fand, von ihr gegangen zu seiner ewigen Ruhe. Aber den armen McHaggis so zu sehen, war ein Ruf zu den Waffen gewesen. Wo Bella vor seinem Tod noch keine Treppe steigen konnte, ohne außer Atem zu geraten, konnte sie das jetzt tun und mehr als das. Sie war besonders stolz auf ihren schlankeren Körper. He, sie konnte Rumpfbeugen machen und dabei ihre Handflächen auf den Boden setzen. Sie konnte ihr Bein auf die Höhe des Kaminsimses heben. Gar nicht schlecht für ein Vögelchen von fünfundsechzig.

Die Autorin lässt den Leser die Welt aus Bellas Augen wahrnehmen. Weil wir das tun und in Bellas Gedanken sind, kommt die Frau uns nahe genug, dass wir ein Bild von ihr entwickeln. Sie ist ein bisschen unkonventionell, hat einen eigenen Kopf und gehört nicht gerade der Oberschicht an.
Auf Seite 154 schickt uns Elizabeth George mit der Protagonistin und Ermittlerin Barbara und in Barbaras Perspektive zu eben dieser Bella zurück. Wir erleben die alte Frau jetzt aus einer anderen Sicht.
Die Folge: Unsere vorherige Sicht wird verändert, vielleicht sogar auf den Kopf gestellt: Ah, so eine ist Bella also!

[Barbara] wurde ins Haus gelassen von einer älteren Frau mit einem militärisch kurzen Haarschnitt und einem Anflug eines militärischen Schnurrbarts. Sie trug Trainingskleidung und makellose weiße Sneakers mit rosa und lila Schnürsenkel. Sie sagte, sie sei Bella McHaggis und es wäre verdammt noch mal höchste Zeit, dass ein Bulle auftauchte und ob sie für diese Art Inkompetenz ihre Steuern zahlte, und die verdammte Regierung kann nicht eine einzige Sache richtig machen, ist doch so, man müsse sich ja nur mal ansehen, in welchem Zustand die Straßen sind, von der U-Bahn ganz zu schweigen, und sie hatte die Bullen schon vor zwei Tagen angerufen und …
Bla, bla, bla, dachte Barbara. Während Bella McHaggis ihren Gefühlen Luft machte, sah Barbara sich um: Holzboden ohne Teppiche, Garderobe im Flur mit Schirmen und Mänteln, und an der Wand ein gerahmtes Dokument, das sich selbst als Hausordnung für Bewohner präsentierte, mit einem Schild darunter, »Vermieterin lebt im Haus«. »Bei Mietern kann man nicht laut genug auf die Regeln pochen«, erklärte Bella McHaggis. »Ich hab sie überall. Die Regeln, meine ich. Es hilft, finde ich, wenn die Leute wissen, was Sache ist.«

Was diese Konstellation so interessant macht: In der Erzählperspektive von Bella gewinnen wir einen Eindruck dieser Person, wir überzeugen uns gewissermaßen aus erster Hand davon, wie Bella tickt. Dann aber sehen wir sie aus den Augen eines anderen Charakters.
Das ist hier besonders spannend, da wir Barbara als Protagonistin bereits viel länger und besser kennen als Bella McHaggis, insbesondere dann, wenn wir die Reihe der Krimis schon länger verfolgen. Das heißt, wir messen Barbaras Meinung von Bella also durchaus Gewicht bei, obwohl sie unserer womöglich widerspricht.
Genau das ist der Punkt: Die Autorin schafft durch die unterschiedlichen Perspektiven einen Konflikt. Hier ist er klein und nicht entscheidend. Aber Sie haben zweifellos die Phantasie, sich vorzustellen, welche weit interessanteren Konflikte Sie schaffen können.

Die Methode der Mehrfachausleuchtung ist bei Charakteren besonders spannend. Dadurch können Sie eine ganze Reihe von Konflikt-Konstellationen konstruieren, unter anderem:

Konflikt zwischen Eigen- und Fremdbild des Charakters
Beispiel: Ein Serienkiller sieht sich selbst als rational und gerecht, während die Ermittler überzeugt sind, es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben.

Konflikt zwischen dem Bild, das Charakter A von Charakter 1 hat und dem, das Charakter B von Charakter 1 hat.
Beispiel: Zwei Ermittler haben unterschiedliche Meinungen über die Schuld eines Untersuchungshäftlings, die in den jeweiligen Erzählperspektiven dargelegt werden. Besonders spannend ist das dann, wenn beide Darlegungen den Leser gleichermaßen überzeugen.

Konflikt zwischen dem Bild, das der Leser von dem Charakter hat und dem Eindruck, den ein anderer Charakter oder sogar der Erzähler hat.
Beispiel: Unser Beispiel aus dem Roman von Elizabeth George.

Die Erwartungen Ihrer Leser können Sie mit diesen Methoden auf überraschende Weise über den Haufen werfen. Das gilt nicht nur dafür, wie Ihre Charaktere wahrgenommen werden. Auch andere Elemente Ihres Romans, wie etwa der Schauplatz, können durch verschiedene Perspektiven (Kamera-Einstellungen) interessanter werden.

Beispiel: Ein altes Fabrikgelände, aus Rissen im Beton sprießt Gras, verrostete Stahlträger ragen aus Haufen von Schutt. Jenny betritt das Gelände und wird von Nostalgie überwältigt. Hier hat sie vor drei Jahren das erste Mal einen Jungen geküsst! Aus der Perspektive von Hannes aber sieht das Gelände ganz anders aus. Ihm macht es Angst, jeder Schatten hat etwas Bedrohliches, der Wind scheint Warnungen zu flüstern.
So bedrohlich das Gelände sich in Hannes’ Augen ausnimmt – es gewinnt eine zusätzliche Dimension durch Jennys positive Sicht. Womöglich irrt Hannes sich ja … Am Ende können Sie durch einen solchen Konflikt der Wahrnehmungen einen Schauplatz aufregender gestalten.

Wenn Sie aus mehreren Perspektiven erzählen, fragen Sie sich ab und an, ob Ihr Roman nicht noch spannender wird, Ihre Charaktere tiefer, Ihre Schauplätze interessanter, wenn Sie das ein oder andere von mehreren Standpunkten aus beleuchten. Auch hier gilt: Der Motor des Ganzen ist ein Konflikt.

Diesen Konflikt aber brauchen Sie nicht einmal. Auch wenn zwei Standpunkte sich ähneln oder sogar gleichen und der Konflikt zwischen ihnen fehlt, kann diese Betrachtung von zwei Seiten den Roman besser machen.
Beispiel: Unsere zwei Ermittler aus dem Beispiel oben sind beide unabhängig voneinander überzeugt, dass der inhaftierte Täter unschuldig ist. Sie überzeugen den Staatsanwalt, ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Auf einen hätte der Staatsanwalt womöglich nicht gehört, aber auf beide schon. Und dann erweist sich, dass beide Ermittler sich geirrt haben – und die Überraschung für den Leser ist umso größer.

Sie sehen, welche Möglichkeiten Ihnen unterschiedliche Einstellungen bieten. Es wäre doch schade, das nicht auszunutzen. Da deckt sich mein Standpunkt ganz mit dem Ihrer Leser, wetten?

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Was können Sie mit verschiedenen Sichtweisen auf ein Element Ihres Romans noch erreichen? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

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