Resonanz im Roman: Szenen und Konflikte nachklingen lassen

Die Musikindustrie weiß es schon seit vierzig Jahren, kürzlich wurde es auch wissenschaftlich nachgewiesen: Lieder, deren Ende langsam ausgeblendet wird, taugen eher zum Ohrwurm als Songs, die einen festen Schluss haben.
Die Begründung ist naheliegend: Das Ende schließt ein Lied ab. Dem Hirn wird signalisiert: »Die Information ist vollständig angekommen, wende dich neuen Informationen zu.« Mit dem Ausblenden aber wird dem Gehirn eben dieser fest definierte Abschluss verwehrt. Das Lied läuft im Kopf weiter. Manchmal ist das dem Hörer sofort bewusst. Aber auch, wenn das auf einer unterbewussten Ebene geschieht, kann der Ohrwurm wirken. Das merken Sie dann, wenn Teile des Lieds Stunden später unvermutet wieder in Ihrem Kopf auftauchen.

So gesehen dürften es Plattenfirmen nicht schätzen, dass in den heutigen Radiosendungen auf ein Ausblenden meist verzichtet wird und stattdessen der nächste Song reinhaut oder ein Jingle nervt oder der Moderator plappert. (Wussten Sie, dass Radiomoderaten vor allem bei privaten Sendern nach der Fähigkeit eingestellt und bezahlt werden, wie gut sie Zuhörer nerven können? ;-))
Es gibt jedoch einen guten Grund, warum die Plattenfirmen doch nicht gegen diese Politik vorgehen (das ist jetzt reine Spekulation von mir): Auch das Hineinquatschen in ein unvollendetes Lied verwehrt dem Hirn einen echten Abschluss. Man müsste mal untersuchen, ob es ebenso gut wirkt wie das Fade-out am Ende.

Ich behaupte, dass beim Lesen ähnliche Mechanismen greifen. Das betrifft vor allem das Ende einer Szene.
Sehen wir uns dazu eine aus Sandro Veronesis Roman »XY« an (Klett-Cotta 2011). Ein Telefonat darin endet so:

»Ruf wenigstens Alberto an. Frag ihn. Auch wenn er auswärts ist, kann er wissen, was passiert ist. Ob Gefahr besteht.«
»O.k., Mama. Ich ruf ihn an. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich möchte mir keine Sorgen machen müssen.«
»Ich sagte doch, mach dir keine Sorgen.«
»Und ruf an.«
»Ciao.«
»Ciao.«

Gründlicher hätte man eine Szene nicht abschließen können. Die Entscheidung hat Autor Veronesi vermutlich bewusst so getroffen, denn die dargestellten Telefonate lesen sich wie Protokolle, jedes Gespräch wird neutral und vollständig wiedergegeben. Lassen wir das mal beiseite. Hätten Sie diese Szene mit der Absicht geschrieben, sie noch im Leser weiterwirken zu lassen, wäre es sinnvoller gewesen, die letzten Zeilen wegzulassen. Wie viele, das ist oft ein Balance-Akt und hängt auch damit zusammen, welche Note (!) im Leser weiterklingen soll.

»Ruf wenigstens Alberto an. Frag ihn. Auch wenn er auswärts ist, kann er wissen, was passiert ist. Ob Gefahr besteht.«
»O.k., Mama. Ich ruf ihn an. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich möchte mir keine Sorgen machen müssen.«
»Ich sagte doch, mach dir keine Sorgen.«

Die Szene so abzuschließen, hätte die Betonung (He, noch ein Begriff aus der Musik! Zufall?) auf »Sorgen« gelegt. Und dem Leser mitgeteilt: »Du solltest dir sehr wohl Sorgen machen.«

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»Ruf wenigstens Alberto an. Frag ihn. Auch wenn er auswärts ist, kann er wissen, was passiert ist. Ob Gefahr besteht.«

Die Szene hätte sogar noch früher enden können. In diesem Fall läge die Betonung, die im Leser bleibt, auf dem Wort »Gefahr«. Sprich: »Leser, der Protagonist schwebt in großer Gefahr!«

Wichtig ist, dass Sie diese Betonungen bewusst wählen. Sie haben damit ein Instrument (!) in der Hand, das nicht nur wirkmächtig ist, sondern vergleichsweise simpel einzusetzen. Denken Sie insbesondere bei der Überarbeitung daran. Fast ohne Aufwand können Sie hier eine Szene deutlich effektvoller gestalten.

Noch ein Beispiel aus demselben Roman:

Ich war die »mit den Fakten vertraute Person«, nur über diese Fakten wusste ich nicht einmal das Wenige, was alle wussten. Ich war in die Falle gegangen; gelenkt von einem fremden Willen, war ich das Opfer der Besessenheit eines anderen geworden – genau das, was ein Priester zu vermeiden lernt.
Doch in dem Augenblick wusste ich nicht einmal das.

Hier scheint es naheliegend, den letzten Satz zu streichen. Womöglich aber ist es gerade dieses Nichtwissen, das der Autor betonen möchte, und vielleicht ist dieses Nichtwissen etwas, was den Charakter noch tiefer in die Bredouille bringen wird – so zumindest die Erwartung, die der Autor hier im Leser weckt.
Eine Gratwanderung.

Szenen komplett abzuschließen, ist jedoch fast immer eine schlechte Idee. Warum? Weil es eine Auflösung des Konflikts bedeutet. Abgeschlossene Szenen sind Einladungen an Ihre Leser, ins Bett zu gehen. Darüber hinaus liefern Sie ihnen keinen Grund, am nächsten Tag das Buch wieder zur Hand zu nehmen.
Das andere Extrem sind Cliffhanger. Dort unterbrechen Sie eine Handlung, einen Konflikt mittendrin – womöglich ist dies das Pendant zu dem ins Lied Hineinquatschen eines hektischen Moderators. Natürlich brauchen Sie bei einem Cliffhanger diese unterschwellige Ohrwurm-Wirkung weniger dringend, denn die vordergründige Spannung in der Handlung ist meist Anreiz genug für den Leser, weiterzulesen.
Doch auch die werden der Cliffhanger irgendwann müde. Und natürlich gibt es Romane, die die laute Dramatik eines solchen abgebrochenen Endes nicht oder nicht oft vertragen. Dann ist die Zwischenlösung eine gute Idee: eine offene Szene, ein ungelöster Konflikt, etwas Schmorendes, Schlummerndes – eben etwas Unaufgelöstes.
Entscheidend ist, es hält Ihre Leser wach. Denn es hallt in ihnen nach, ob sie wollen oder nicht: Resonanz!

Und: Denken Sie auch daran, dass ein Ton in leeren Räumen ganz anders hallt als in der vollgestopften eines Messies. Sprich: Lassen Sie im Kopf Ihrer Leser Platz für Nachhall, für Resonanz.

Über den Roman als Ganzes gesehen, haben diese unaufgelösten Szenen eine weitere Wirkung: Der Abschluss aller Handlungsfäden, des zentralen Plots und seiner Subplots und das Auflösen von Geheimnissen und Konflikten wirkt als Kontrast zu den nicht abgeschlossenen Szenen dann besonders stark und sorgt beim Leser für ein besonders starkes Gefühl der Befriedigung.
Und genau darum geht es Ihnen ja.
Es sei denn, Sie planen eine Fortsetzung. Oder Sie möchten ein offenes Ende und den ein oder anderen nicht abgeschlossenen Subplot. Auch dann sind schwebende Konflikte und etwas Unaufgelöstes am Ende eine gute Möglichkeit, mehr Resonanz in den Roman zu bringen und einen literarischen Ohrwurm zu erzeugen.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Was halten Sie von meiner These vom literarischen Ohrwurm? Wie könnte man noch einen erzeugen? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

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