Roman plotten: Die (Selbst-)Erkenntnis vor dem ersten Plot-Point

Wendepunkte, Plot-Points in einem Roman passieren nicht so einfach. Schließlich sind das häufig durchgreifende Lebensentscheidungen oder extreme Neuausrichtungen. Sie haben eine Vorgeschichte und diese sollte im Zweifel Teil Ihres Romans sein. Der Leser will schließlich miterleben, wie solche Veränderungen zustande kommen, er will sie mit Spannung erwarten dürfen, vor allem aber will er sie nachvollziehen können.

Nicht immer sind diese Vorgeschichten jedoch so explizit, sie müssen es auch nicht immer sein. In Tolkiens »Der Herr der Ringe« erlebt man nicht, wie Frodo zu der Entscheidung gelangt, den Ring zu nehmen und mit ihm gen Mordor zu ziehen. Doch der Leser hat Frodos Entwicklung bis dahin verfolgt, er hat gesehen, wie durchgreifend sich Frodos ehemals so friedliches Leben verändert hat, welchen Schrecken er außerhalb des Auenlandes begegnen musste, bevor er zu den Elben kam. Wegen all dem erscheint Frodos Entscheidung zwar überraschend, aber zugleich auch folgerichtig. Wir haben sie als Leser nicht kommen sehen, aber wir können sie dennoch nachvollziehen. Das ist das Wesentliche.

Wenn Ihr Roman in seinem zentralen Plot der Entwicklung Ihres Protagonisten folgt, betreffen die wichtigen Plot-Points am Ende der Akte im Regelfall auch diesen Protagonisten. Entsprechend sollte das Hinarbeiten auf den Plot-Point ebenfalls den Protagonisten mit einbeziehen.
Ein wichtiger Punkt auf dem Weg zu einer durchgreifenden Entscheidung oder Neu-Orientierung ist die Erkenntnis oder Offenbarung. Dem Protagonisten wird etwas bewusst, was er zuvor nicht gesehen hat, er erkennt etwas, was ihm zuvor verborgen war. Das kann eine Selbsterkenntnis sein oder eine bedeutsame neue Information, die ihm ein Dritter gibt.

In dem literarischen Krimi »Die Engel warten nicht« von Dirk van Versendaal (btb 2014) hat Protagonist und Autodieb Myrbäck in der näheren Umgebung des ersten Plot-Points (Seite 103 von 503 [tatsächliche Seitenzahlen]) eine solche Erkenntnis.

Aus dem Vermesser und Auftragsdieb war ein Verfolgter geworden, ein Mann in zerrütteten Verhältnissen, der seinen Sohn verschleppte, ohne zu wissen, wohin, für wie lang. Es war verlockend sich vorzustellen, all dies sei innerhalb weniger Tage geschehen, zufällig, die Summe einer Reihe belangloser Unglücksfälle. Doch eine Stimme sagte ihm, dass dies nichts als ein Schöngerede wäre. Die Dinge waren seinen Händen entglitten, nicht erst, seit er auf einem Firmenparkplatz in Hamburg-Osdorf einen Audi geknackt hatte. Nein, sein Leben war vor langer Zeit schon aus der Spur geraten, war noch ein paar Jahre schicklich an seiner Seite gelaufen, hatte eine Hochzeit, die Geburt seines Sohnes und einen bescheidenen beruflichen Aufstieg mitgetragen – bis es vor nicht einmal einer Woche ausgeschert war und jetzt den Abhang hinabraste, mit ihm im Schlepptau.
An welchem Punkt seiner Vergangenheit hätte er eingreifen, anhalten, den Kurs ändern sollen?

Diese Stelle hat mehrere Funktionen. (Und, Kompliment an den Autor, die Auto-Metapher ist bei der Selbsterkenntnis eines Autodiebs treffend und trefflich gewählt.)

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Sie bereitet den Charakter und damit den Leser auf eine Veränderung vor, die im ersten Plot-Point eine Richtung vorgeben wird. Die Erkenntnis vor dem ersten Plot-Point ist häufig auch der Beginn des Anstiegs des Charakterbogens. Bis dahin und durch den ersten Akt ist der Bogen flach verlaufen, sprich: keine Veränderung des Charakters und kein Anzeichen dafür.

Die Stelle hier gibt den IST-Zustand des Charakters wieder. Das ist wichtig, denn eine Veränderung braucht einen Vergleichswert. Myrbäck fasst sein Leben und sich selbst in wenigen Sätzen zusammen. Dieser IST-Zustand muss dabei nicht der tatsächliche, objektive Zustand sein, sondern kann durch die Wahrnehmung eines Charakters oder des Erzählers getrübt und beeinflusst sein.

Damit bietet diese Erkenntnis dem Leser für später im Roman eine Vergleichsmöglichkeit: Wie hat sich der Charakter verändert?
Dieses Gefühl einer Veränderung können Sie verstärken, indem Sie den Charakter die IST-Situation subjektiv als schlimmer, ungünstiger darstellen lassen, als es sie objektiv ist. Die Folge: Der Leser nimmt eine größere Veränderung wahr. Dadurch geben Sie ihm das Gefühl, einen aufregenderen Roman erlebt zu haben, in dem noch mehr geschehen ist.

Eine solche Erkenntnis zeigt auch auf, dass eine Veränderung überhaupt im Bereich des Möglichen liegt.
Zugleich lässt sie den Leser eine Veränderung erwarten, wie auch immer diese letztlich aussehen mag oder ob sie überhaupt eintritt. Insofern ist die Erkenntnis auch ein Mittel der Suspense: Der Leser erwartet gespannt, ob der Charakter etwas aus seiner Erkenntnis lernt und welche Konsequenzen er daraus zieht.
Um diese Suspense noch zu verstärken, kann es sinnvoll sein, wenn Sie zeigen, dass eine Veränderung für den Charakter schwierig sein wird, wenn nicht gar unmöglich erscheint.

Als angenehmen Nebeneffekt vertiefen Sie mit einer solchen Erkenntnis einen Charakter. Und Sie bieten dem Leser die Chance, den Charakter besser kennenzulernen und sich mit ihm (stärker) zu identifizieren. Insofern ist auch die Lage am Ende des ersten Akts bedeutsam, da sehr bald größere Ereignisse und Erschütterungen geschehen werden, die der mit dem Protagonisten verbundene Leser nun umso deutlicher spüren wird.

Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung, heißt es so schön. Für Autoren gilt zusätzlich: Selbsterkenntnis (des Protagonisten) ist der erste Weg zu einem besseren Roman. Und das schon beim Plotten eines Romans.

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Welche Vorteile bringt eine Erkenntnis noch mit sich? Fallen Ihnen Beispiele aus Film oder Literatur ein, wo das besonders gut gemacht wurde? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

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