Die Sterbeszene im Roman

Nachdem ich im letzten Artikel darüber geschrieben habe, wie Sie Trauer einer Romanfigur zeigen (Die Blumen an ihrem Sarg riechen wie ihr erster Strauß Rosen), geht es heute um das Ereignis, das vor der Trauer kommt: um den Tod, genauer: um die Sterbeszene.

Sterben im Roman kann auf ebenso vielfältige Weise geschehen wie im Leben. Unmöglich, das auch nur ansatzweise abzudecken. Für Sie interessant sind hier die ausführlicheren Situationen, nicht ein schnelles »Das Schwert sauste herunter und Ismals Kopf rollte im blutigen Sand.« Es geht um das Sterben einer für Ihren Roman wichtigen Figur, nicht um den Tod von Nebendarstellern.
Grundsätzlich ist es sinnvoll, die Länge des Sterbens in ein Verhältnis zur Bedeutung des Charakters für den Roman zu stellen. Sie werden unzufriedene Leser erschaffen, wenn Sie das Sterben der Protagonistin eines Wälzers von fünfhundert Seiten in einem Nebensatz abhandeln.

Im Wort »Sterbeszene« steckt schon der Hinweis darauf, wie dieses Sterben vor sich gehen sollte. Es ist eine Szene, etwas Dramatisches, nicht Episches – also brauchen Sie Konflikt. Der zentrale Konflikt ist in den meisten Fällen klar: Der Charakter will nicht sterben und wehrt sich gegen den herannahenden Tod. Das kann er äußerlich tun, indem er etwa versucht, die heraustretenden Darmschlingen zurück in seine Bauchhöhle zu stopfen (Kleiner Tipp, falls Sie selbst mal in so eine Lage geraten: Lassen Sie die Darmschlingen, wo Sie sind, und decken Sie sie irgendwie ab!). Oder er tut es innerlich, in Gedanken und einem »Ich darf nicht sterben, Katy ist noch in Gefahr, sie braucht mich, ich darf jetzt nicht einfach sterben!«

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Wie jede Szene sollte auch eine Sterbeszene einen Erzählbogen besitzen und einer Dramaturgie folgen einschließlich Wendepunkte und Höhepunkt. Ein Wendepunkt könnte etwa die Erkenntnis des Charakters sein, dass Hilfe nicht rechtzeitig da sein wird.
Entsprechend sollten Sie die Szene auch in den größeren Erzählbogen Ihres Romans einbinden: Das Sterben ergibt sich schlüssig aus den Ereignissen davor. Die Sterbeszene ist dann der Höhepunkt, der Tod die Auflösung des zentralen Konflikts.
Ebenso legitim ist aber natürlich auch ein Bruch mit dieser Struktur. Der Roman läuft womöglich auf einen Triumph des Helden zu – aber kurz davor trifft ihn unerwartet ein verirrter Pfeil aus den eigenen Reihen und tötet ihn.
Wenn Sie solche Abweichungen aus der erwarteten Dramaturgie wagen, ist es meist eine gute Idee, dieses Unerwartete zu thematisieren und es nicht dem Leser einfach so hinzuschütten, frei nach dem Motto: »Mach selbst was daraus«. Vielleicht führt ja auch gerade der Tod des Helden letztlich zu einem Sieg der Guten.

Bei der Auflösung des Charakterbogens durch den Tod des Charakters bietet es sich an, eine Art Zusammenfassung zu schreiben: Kurz den Weg zu skizzieren, den er genommen hat, den Fehler zu zeigen, den er begangen hat, vor allem aber, dem Leser noch einmal vor Augen zu führen, was für ein toller Kerl der Sterbende doch war.
Dadurch geben Sie dem Leser Gelegenheit, diesen Tod zu bedauern und von ihm gerührt zu werden. Oder, wenn Sie daraus Spannung erzeugen wollen, Sie schenken dem Leser noch einmal Hoffnung: Vielleicht überlebt der Held ja doch, vielleicht kommt die Hilfe, obwohl er selbst die Hoffnung aufgegeben hat.
Ziehen Sie die Szene ruhig in die Länge. Je mehr die Leser den Charakter ins Herz geschlossen haben, desto länger werden sie bereit sein, seinem Sterben beizuwohnen, desto größer ist die Spannung, ob er nicht doch noch überlebt.
Es gibt kaum etwas Besseres und Effektvolleres, die Leser anzurühren und mit ihren Gefühlen zu spielen, als eine dramatische Sterbeszene.

Nutzen Sie die Sterbeszene dazu, das Besondere dieses Charakters deutlich herauszustellen. Damit geben Sie dem Leser Emotionen (»reason to care«), dem Sterbenden geben Sie Würde. Ganz wichtig sind spezifische Details, die den Augenblick des Sterbens zu einem ganz besonderen Moment machen, der auch in den Lesern bleibt.

Der turbulente Krimi von Ana Paula Maia »Krieg der Bastarde« (A1 Verlag 2013 / original »A guerra dos bastardos«, Brasilien 2007) wird in einer Art Staffel-Form erzählt (und erinnert an Tarrantinos »Pulp Fiction«, ist aber poetischer): Die Protagonisten wechseln einander ab, manche Charaktere tauchen zwischendurch immer wieder auf. Daher funktioniert es, dass der erste der vielen Protagonisten, Amadeu, schon auf Seite 65 stirbt. Er wird von einem Taxi überfahren. Der Fahrer lädt ihn zu seinem Fahrgast auf den Rücksitz, zufällig einem Bekannten von Amadeu, und versucht, durch die Rush-Hour-Staus von Rio zum Krankenhaus zu kommen. Entsprechend lange kann Amadeus Sterben dauern.
In dieser Szene zeigt sich die Kraft des Kontrasts: Das Wetter ist schön, um das Taxi herum tobt das Leben einer Millionenstadt, aber drinnen im Wagen stirbt ein Mensch.

Die Autorin gibt den Lesern spezifische Details, eins davon bleibt aus dieser Szene besonders in Erinnerung:

»Es ist schon komisch, Horácio«, sagt er, spricht jedoch den Satz nicht zu Ende, als er das Loch in seiner linken Kopfhälfte bemerkt. »Wo ist es?«, sagt er und streicht über die Stelle. »Wo ist es?«, beharrt er. Er fasst sich an das andere Ohr, es ist noch da, wo es hingehört. »Mein Ohr … das Ohr … wohin ist es … gefallen?«
Der neuerliche kräftige Aufschrei des Sterbenden lässt das Taxi mitten auf der Straße abrupt anhalten und den Verkehr stauen. Der Fahrer steigt aus, zieht ein kariertes Tuch aus der Hosentasche, bückt sich und schabt damit das Ohr vom Scheinwerfer. Dabei hält er sich die Hand vor den Mund, um sich nicht zu übergeben. Aufgewühlt steigt er wieder ein, streckt seine Hand nach hinten und reicht das Tuch mit dem Ohr weiter. Schnell startet er den Wagen, bevor noch ein Polizist auftaucht. »Nimm dein Ohr und halt den Mund.«

Später in der Szene:

Vor seinen Augen wird es schwarz, wie wenn der Tag binnen zwei Sekunden in Nacht übergeht; das Abendrot fällt gewaltsam in die Finsternis hinab.
Er nimmt die ganze Kraft zusammen, die sein Körper noch in sich hat, presst Horácios Hand, hebt leicht den Kopf und versucht, etwas zu sagen. Doch seine Worte werden vom Blut erstickt, das aus seinem Mund rinnt.

Amadeu will noch ein Geheimnis weitergeben, den Verbleib einer Tasche. Doch wegen seines Zustands kann er Horácio nur noch Bruchstücke mitteilen, ein Rätsel.
Das ist für eine Sterbeszene schon klassisch, umso mehr sollten Sie versuchen, hier die üblichen Klischees zu vermeiden. Während manche Sterbeszenen etwas auflösen und beenden, macht diese Szene etwas anderes: Sie erschafft einen neuen Konflikt: Das Rätsel um die Tasche wird Horácio verfolgen.

Na, Lust bekommen, noch jemanden aus Ihrem Roman-Ensemble zu meucheln?

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Wie stellen Sie Sterben dar? Warum so? Kennen Sie Beispiele aus Literatur oder Film, wo diese Darstellung besonders gelungen oder besonders misslungen ist? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

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