Warum viele Leser Klischees schätzen

Ab und an sehe ich mir mal Bücher genauer an, die gerade in den Bestseller-Listen stehen und Käufer vor allem damit anlocken, dass sie in den Bestseller-Listen stehen.
Bei vielen komme ich über den Anfang nicht hinaus. Sehr beliebt und bereits so lange ein Klischee, wie es das Wort Klischee gibt: Der Protagonist erwacht.
Sie kennen das selbst. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass auch Sie schon einmal so einen Anfang geschrieben haben: In 50 % der Fälle weiß der Charakter nicht, wo er ist, in weiteren 25 % weiß er nicht, wer er ist. Wenn es eine Protagonistin ist, ist sie meistens auf raffinierte und schmerzhafte Weise gefesselt, weiß nicht, wo sie ist oder warum sie dort ist, sie weiß nur, dass es ihr dort eher weniger gefällt.
Es gibt noch viele weitere Klischee-Anfänge, aber die Anfänge an sich interessieren mich hier nicht. Mir geht es um etwas anderes.

Dass ich solche Anfänge nicht mag, ist nämlich mein persönliches Problem, das ich nicht mit der Mehrheit der Leser teile. Im Gegenteil. Die Mehrheit der Leser wird von genau solchen Anfängen in ein Buch hineingezogen wie eine Gruppe Matrosen beim ersten Landgang vom Türsteher in ein Strip-Lokal.
Was als Vergleich gar nicht mal so weit hergeholt ist. Denn die Gründe für diese Leserlust liegen tief verankert in den Lesern.

Was bedeutet der Beginn eines Romans für den Leser? Eine neue Welt, in manchen Romanen eine buchstäblich andere Welt, tut sich vor ihnen auf, sie lernen neue Menschen kennen, neue Wertvorstellungen, Meinungen, Ideen, Lebensweisen. Neu, das Wort klingt doch positiv? Für manche tut es das. Einige lesen vor allem, um all dieses Neue kennenzulernen.

Andere aber übersetzen »neu« mit »fremd«.Und das klingt schon lange nicht mehr so angenehm. Manche sagen zu »neu« auch »ungewohnt«. Zu vieles Ungewohntes auf einmal sorgt für Überforderung.
Viele Leser sind für diesen Ansturm an Neuem, Ungewohntem, Fremden nicht ausgerüstet, für sie ist es, als würden sie sich als Mensch mit Platzangst und empfindlichen Sinnen zur Hauptgeschäftszeit in den Souk einer arabischen Großstadt stürzen – Informationsüberlastung.

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Wie angenehm und beruhigend ist es da, wenn der Autor einen vertrauten Anfang liefert. Das ist, als würde man am Eingang zum Souk ein paar alte Freunde treffen. Mit denen gemeinsam ist das Abenteuer leichter zu bewältigen.
Wenn man sich die ganze Zeit mit den Freunden unterhält, wenn man den Souk durch ihre Bemerkungen gefiltert aufnimmt, erlebt man ihn nur noch in den Bahnen, die man schon kennt. Andrea lästert mal wieder über billigen Modeschmuck. Christine beklagt sich über die Araber, die wahlweise zu aufdringlich oder zu höflich sind. Dasselbe sagte sie in den letzten Urlauben auch über Franzosen und Südafrikaner. Heike referiert über die Ausbeutung der Frau in der arabischen Welt und Thomas gibt ihr Paroli. Der Souk ist noch da, er ist noch ebenso laut und bunt, nur läuft er jetzt als Hintergrundmusik zu den Dialogen der Freunde.
Manche Lesern stört das. Sie wollen Neues, Buntes erleben. Viele Leser aber, die Mehrheit der Leser, will die gefilterte Tour.
Es gibt noch eine Steigerung: die geführte Tour. Der Autor nimmt den Leser an die Hand und erklärt ihm alles, anstatt ihn sich seine eigenen Gedanken und Gefühle machen zu lassen. Dieses Erklären drückt sich in überreichlichem Gebrauch von Stereotypen, von Melodramatik, von nichtssagenden Adjektiven und Adjektiven aus.
Die Mehrheit der Leser nimmt am liebsten die geführte Tour mit Freunden.

Sie sollten jetzt nicht den Schluss daraus ziehen, diese Leser wären dämlicher oder feiger oder auf andere Weise minderbemittelter als andere.
Die Lösung liegt, wie oben angedeutet, in jedem Leser. Und zwar im Belohnungszentrum des Gehirns. Die Leser können also gar nichts dafür.

Bei den meisten Menschen wirkt sich Vertrautes auf das Belohnungssystem aus – jedes Mal, wenn der vertraute Reiz wahrgenommen wird, schüttet das Gehirn Chemikalien aus, die für ein angenehmes Gefühl sorgen. Auf diese Weise entsteht auch Sucht.
Mit der Zeit wird dieser Zusammenhang gelernt, verfestigt sich also immer mehr. Deshalb fahren manche Menschen am liebsten jedes Jahr an denselben Ort in Urlaub. Essen am liebsten ein bestimmtes Gericht, das möglichst immer genau gleich schmecken soll. Mit zunehmenden Alter wird die Belohnungswirkung des Vertrauten stärker. Das ist mit eine Erklärung dafür, warum viele Menschen im Alter Neuem gegenüber weniger aufgeschlossen sind.

Autoren, die ihren Lesern also das Immergleiche bieten, belohnen sie. Mit Vertrautem. Auch Neues kann für eine Aktivität des Belohnungssystems sorgen. Doch für die Mehrheit der Leser ist die Belohnung durch das Vertraute größer.

So stellt sich für Sie als Autor einmal mehr die Frage: Welche Leser wollen Sie erreichen? Und was wollen Sie in Ihren Lesern erreichen?

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Neues oder Vertrautes — welcher Typ sind Sie? Wie überträgt sich das auf Ihre eigenen Texte? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar … Und: Das hier ist kein Abhören in der Schule, es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich freue mich auch über Kommentare, die diese Fragen nicht beantworten 🙂

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